Bis zum Jahr 1944
stellte die Frage der türkischen Minderheit in Bulgarien kein
vordringliches Problem dar, wenngleich sie latent vorhanden war
und die erwachten nationalistischen Leidenschaften so manche
Komplikationen verursachten.
Die politischen Veränderungen nach dem Kriege schufen jedoch
auch für die bulgarischen Türken völlig neue Bedingungen. So
führten die Sowjetisierung des Landes, die Kollektivierung der
Landwirtschaft, die Verstaatlichung des türkischen
Bildungswesens und die konsequente Politik der Säkularisierung
zu einer Wende im traditionellen Leben der Muslime. Die
Entstehung des „Eisernen Vorhangs“ an der Grenze zwischen
Bulgarien und der Türkei zog ihrerseits einen tieferen Graben
zwischen diesen benachbarten Ländern. Bald gerieten sie in
verschiedenen Machtsphären, was zu ihrer Eingliederung in die
entgegengesetzten Militärblöcke der NATO (1950-1952) und des
Warschauer Paktes (1955) führte. So wurde die türkische
Minderheit als eine natürliche Brücke zwischen beiden Völkern
und Kulturen sehr früh in die Kontroversen des Kalten Krieges
hineingezogen und entwickelte sich zu einem ernsthaften Problem
der bilateralen bulgarisch-türkischen Beziehungen. Für die
bulgarische Nationalpolitik gewann das Problem dadurch zunehmend
an Bedeutung und harrte daher einer endgültigen Lösung. Die
Entwicklung der türkischen Minderheit unter kommunistischer
Herrschaft durchlief zwei Hauptphasen, die ganz allgemein mit
der Stalinschen und
Živkovschen
„Ära“ der modernen bulgarischen Geschichte zusammenfallen.
Die Zeit Dimitrovs und
seiner Nachfolger (1944-1956)
Über Anzahl und
Situation der türkischen Bevölkerung im Wendejahr 1944
existieren keine statistischen Angaben. Man weiß, dass die
letzte Nummer der einzigen muslimischen Zeitung „Medeniyet“
[Zivilisation, Kultur] am 12. August erschien, also drei Wochen
vor dem verzweifelten Versuch, das Land durch die neue Regierung
Konstantin Muravievs dem Krieg zu entziehen. Auch über die Zahl
der damals ausgewanderten bulgarischen Türken ist nichts
bekannt, da für die Zeitspanne 1944-1947 keine Daten, aus denen
Informationen darüber hervorgingen, existieren.
Man kann nur vermuten, dass die Zahl dieser Auswanderer 1000
nicht überstieg.
Die politische Wende in Bulgarien führte jedoch zur illegalen
Emigration von Personen, die mit den früheren Regimes verbunden
gewesen waren und Repressalien seitens der neuen Macht zu
befürchten hatten. Ob darunter auch Muslime waren und wieviele,
läßt sich heute nunmehr schwer feststellen.
In den
ersten Nachkriegsjahren verbesserte sich der Status der
bulgarischen Türken in einem wesentlichen Ausmaß, so kam es bis
zum Jahr 1951 zu einer Ausweitung ihrer nationalkulturellen
Rechte. Auch die soziale Lage dieser Minderheit, die unter der
früheren Segregationspolitik in eine Art „Appendix“ der
Staatsnation verwandelt worden war, verbesserte sich insgesamt.
Durch den Bruch im traditionellen Leben der muslimischen
Bevölkerung, zu dem es durch die Politik der Säkularisierung
sowie die Kollektivierung kam, wuchs jedoch auch der
Emigrationsdruck. Diese Periode verlief in zwei Phasen
(1944-1948 und 1949-1951), die mit dem Versuch der Errichtung
einer „volksdemokratischen“ Regierungsform sowie dem Streben
nach einer Balkanföderation, nach dem Tod Georgi Dimitrovs auch
mit einem forcierten Übergang zum sowjetischen politischen
System, verbunden waren.
Bereits Ende
Dezember 1944 organisierte die Bulgarische Arbeiterpartei der
Kommunisten, die BRP(k) [Bălgarska Rabotničeska Partija (komunisti)],
eine Konferenz mit Vertretern der türkischen Minderheit, im März
1945 führte sie auch ein Treffen mit linksorientierten Pomaken
durch. Bei diesen Begegnungen wurden Maßnahmen zur Einbeziehung
der muslimischen Bevölkerung in die Politik der regierenden
„Vaterländischen Front“ besprochen. Im Jahr 1945 begann man,
neue türkischsprachige Zeitschriften herauszugeben, wie „Vatan“
[Vaterland, Sofia 1945] und „Yeni ışık”
[Neues Licht, Sofia 1945/46 und folg.].
Auch Zeitungen erschienen, wie z. B. “Eylûlcü
çocuk“
[Septemberkind, Sofia 1946-1960], “Halk gençliği” [Volksjugend,
Sofia 1948 und folg.], “Halk yükselişi” [Volksaufschwund, Sofia
1948/49–1949/50] usw.
Allmählich wuchs
auch die Anzahl der türkischen Schulen. Mit dem novellierten
Gesetz über die Volksbildung wurden im Jahre 1946 die
Minderheitenschulen im Lande zum ersten Mal verstaatlicht und so
den bulgarischen rechtlich völlig angeglichen. Dies war ein
Anreiz für die türkische Bevölkerung, mit freiwilliger Arbeit
zur Errichtung neuer Schulgebäude beizutragen.
Allein im Jahr 1947 wurden 75 neue Bildungseinrichtungen
eröffnet, und 1948 besuchten schon 80% der türkischen Kinder
regelmäßig eine Schule.
Für die religiösen
Bedürfnisse blieben anfangs fünf Medresses (niedrige geistliche
Schulen) bestehen sowie das „Nüvvab“ in
Šumen
als höhere Religionsschule, die sich später in eine Art
türkisches Minderheitengymnasium verwandelte. Darüber hinaus
wurden 1947 die erste türkische pädagogische Schule in Stara
Zagora sowie das erste „bulgarisch-mohammedanische“ Gymnasium in
Plovdiv eröffnet, im Jahre 1948 wurde am Lehrerinstitut in
Šumen
eine Spezialabteilung zur Ausbildung türkischer
Mittelstufenlehrer gegründet. Zur gleichen Zeit wurden auch
türkische Kindergärten und Lesehallen in fast allen Bezirken mit
dichter türkischer Besiedlung eröffnet.
Dies
alles zeugt von einer spürbaren Verbesserung der Lage der
bulgarischen Muslime, die beim Zensus des Jahres 1946 auf
938.418 Menschen belief. Etwa 675.000 davon (oder 9,61% der
Einwohner des ganzen Landes) wurden als ethnische Türken
registriert. Weit größere Möglichkeiten für die Erweiterung der
Minderheitenrechte bot die Ende 1947 verabschiedete erste
republikanische (die sogenannte „Dimitrov sche“) Verfassung,
deren Art. 79 das Recht der „nationalen Minderheiten“ auf
muttersprachlichen Unterricht und die Entwicklung der
Nationalkultur beim obligatorischen Erlernen der bulgarischen
Sprache garantierte. Der Verfassungsentwurf hatte sogar das
Recht jedes Bürgers vorgesehen, „seine Nationalität frei zu
bestimmen“,
doch wurde dann
diese Klausel aus dem endgültigen Text gestrichen. Obwohl im
neuen Grundgesetz die türkische Bevölkerung nicht direkt
angesprochen wurde, so bestätigte es de facto ihren
nationalen Status, und in den offiziellen Veröffentlichungen aus
der zweiten Hälfte der vierziger Jahre wird häufig von einer
„türkischen nationalen Minderheit“ gesprochen. Dies ermöglichte
den Wegsfall der slawischen Suffixe -ov, -ev aus
den türkischen Familiennamen. Gleichzeitig erhielten auch die
1942 umbenannten Pomaken wieder ihre alten muslimischen Namen
zurück.
Viele
Verfassungsbestimmungen wurden ins Programm der „Vaterländischen
Front“ [Otečestven front] vom Februar 1948 aufgenommen, das z.
B. von einer „Trennung von Staat und Kirche“, einer „staatlichen
Aufsicht über die Volksbildung“, einer Sicherung des „weltlichen
Charakters der Erziehung“, einer Schließung der „privaten
geistlichen Schulen“ usw. sprach. In Übereinstimmung damit
wurden noch 1948 die türkischen Schulen, ein Jahr später auch
die muslimischen Religionseinrichtungen unter die direkte
Kontrolle der Regierung gestellt. Obwohl diese Maßnahmen manche
traditionelle Freiheiten (z. B. das Recht auf Selbstverwaltung
der muslimischen Schulen) verletzten, trugen sie immerhin zu
einer Verbesserung der stagnierenden Lage der Minderheit bei.
Zweifellos haben auch die Prozesse des sozialen Wandels in
Bulgarien zu positiven Veränderungen im ökonomischen Bereich, zu
größerem Respekt gegenüber der muslimischen Bevölkerung und zur
Verbesserung ihrer allgemeinen Lage geführt. Sie gerieten aber
oft auch im Konflikt mit den traditionellen Sozialstruktur und
Mentalität der bulgarischen Türken. Viele von ihnen empfanden
die Veränderungen offensichtlich als Angriff auf ihre
Lebensweise und als Gefahr für ihre nationale Identität.
Daher verstärkte
sich trotz der wohlwollenden Minderheitenpolitik noch Ende der
vierziger Jahre den Auswanderungswunsch unter den Muslimen, der
von der Propaganda in Ankara zusätzlich unterstützt wurde.
Man darf
nicht vergessen, dass die Entwicklungsprozesse in Bulgarien nach
dem Krieg von immer stärker werdenden Spannungen zwischen den
beiden Nachbarländern begleitet wurden. Von 1945 an waren ihre
Beziehungen abhängig von ihrem jeweiligen Verhältnis zu den
Großmächten. Die westlichen Alliierten, die ihre eigenen
Interessen verfolgten, überließen Bulgarien dem sowjetischen
Machtbereich. Diese Nachgiebigkeit galt jedoch nicht für die
südlichen Teile des Balkans. Die Nachkriegskonfrontation mit
Moskau war in Griechenland besonders stark spürbar, wo sich der
politische Widerstand zu einem verbitterten Bürgerkrieg
auswuchs. In der Türkei selbst führte dies zu einem verstärkten
Gefühl der Bedrohung und beschleunigte die Hinwendung des Landes
zum Westen. Im Mai 1947 verkündete Ankara seine Bereitschaft,
Balkan-Türken aufgrund schon vorher geschlossener Vereinbarungen
aufzunehmen, und ab der zweiten Hälfte desselben Jahres wurde
immer häufiger auch die Frage nach der Lage der bulgarischen
Türken gestellt. Gleichzeitig wuchs die Anzahl der Zwischenfälle
an den Grenzen und verstärkte sich den Propagandakrieg, der nach
und nach immer schärfere Töne annahm.
Im
September 1946 sprach ein Pomaken-Vertreter in Griechenland von
der Bedrückung der Muslime in Bulgarien,
und es wurden
pomakische Diversantengruppen außerhalb des Landes ausgebildet.
1947 und 1948 gab
es mehrere Scharmützel und Verletzungen der bulgarischen Grenzen
seitens Griechenlands und der Türkei. Am 11. Oktober 1947 drang
ein türkisches Flugzeug in den bulgarischen Luftraum oberhalb
der Grenzstadt Malko Tărnovo ein,
am 15. und 16.
Oktober wurde einen Grenzposten im Gebiet von Svilengrad
angegriffen,
und als
schließlich am 9. Februar 1948 zwei türkische Militärflugzeuge
über Sozopol neben Burgas abgeschossen wurden, erreichte die
Spannung zwischen beider Ländern einen kritischen Punkt.
Am 13. März 1948
verlangten die bulgarischen Machthaber die Abberufung des
türkischen Militärattachés und seines Adjutanten wegen Spionage,
worauf Ankara mit der Schließung dieses diplomatischen Postens
antwortete und seinerseits den bulgarischen Militärattaché
auswies.
Gleichzeitig wurde
die antibulgarische Kampagne der türkischen Massenmedien
fortgeführt. Am 31. März 1948 behauptete z. B. die Zeitung „Yeni
Sabah“, die sich auf bulgarische Aussiedler berief, dass die
Türken im Lande Verfolgungen ausgesetzt seien, weil ihnen ein
fremder Glaube aufgezwungen und die Namen geändert werden,
außerdem sei eine Gruppe von Jugendlichen, die mit den
Flüchtlingen gemeinsam unterwegs war, mit Beilen totgeschlagen
worden. Die Nachricht rief heftige Entgegnungen und Proteste von
bulgarischer Seite hervor.
Heute läßt sich
kaum etwas über den Hintergrund dieser Zeitungsnotiz in
Erfahrung bringen, auf jeden Fall ist die Behauptung von einer
Namensänderung zu dieser Zeit höchst verblüffend, jedenfalls ist
sie ein Nachweis, wie die Einstellung der türkischen
Öffentlichkeit zu den politischen Veränderungen in Bulgarien
war. Auch dies übte einen bestimmten Einfluß auf die Stimmung
unter den Muslimen aus, deren Wunsch nach Auswanderung in die
Türkei noch 1948 wuchs. Die kommunistische Führung hatte dies
lange Zeit allein der „Propaganda aus Ankara“ zugeschrieben. Am
4. Jänner 1948 jedoch kam das Zentralkomitee (ZK) der
Bulgarischen Kommunistischen Partei [Bălgarska Komunističeska
Partija, BKP] zu dem Schluß, daß die türkische Minderheit ein
unproduktives und potentiell unsicheres Element darstelle,
dessen sich das Land zum Teil „entledigen“ müsse. Auf dieser
Sitzung drängte Georgi Dimitrov auf eine Lösung des Problems bis
zum Ende des Jahres. Die „nichtbulgarische Bevölkerung“, die er
als „ein Geschwür für unsere Gesellschaft“ bezeichnete, sollte
von der südlichen Grenze Bulgariens entfernt und in eine andere
Region umgesiedelt werden.
Und später hegte
auch Dobri Terpešev seine Zweifel, ob sich die türkische
Minderheit überhaupt jemals dem Volk der Bulgaren anschließen
könne, weswegen er die ganze Angelegenheit auf die Frage
reduzierte, wann und wie die Türken auswandern sollten, durch
wen sie zu ersetzen seien und welche weitere Veränderungen in
den entsprechenden Gebieten durchzuführen seien.
Die
Ereignisse des Jahres 1948 verzögerten eine endgültige
Beschlußfassung. Der Bruch Titos mit Moskau führte unter anderem
auch dazu, daß Stalin jegliches Interesse an der Idee einer
Balkanföderation verlor, die als ein mögliches Mittel für das
sowjetische Eindringen in Jugoslawien hätte dienen können.
Dies spiegelte sich in der weiteren Entwicklung Bulgariens, wo
mit dem Ende des „volksdemokratischen“ Experiments der Übergang
zum sowjetischen politischen System forciert wurde. Diese Wende
des Jahres 1948 beeinflußte auch die Lage der türkischen
Minderheit. Die Verschlechterung der bulgarisch-jugoslawischen
Beziehungen führte zu Einschränkungen in ihrem Status, und die
immer stärker werdende Einmischung des Staates in fast alle
Lebensbereiche heizte die Atmosphäre der Feindseligkeit
zusätzlich an. Die Schwierigkeiten, sich an die sozialen
Veränderungen anzupassen, die Wirkung der Propaganda aus Ankara,
das Gerücht, die Grenzzone würde sich zu einem Kriegsschauplatz
entwickeln, das Beispiel der nach Israel auswandernden
bulgarischen Juden; all dies bestärkte den Wunsch der Türken
nach Emigration.
Der Tod Dimitrovs
am 2. Juli 1949, mit dessen Namen bereits seit den zwanziger
Jahren die Pläne einer kommunistischen Balkanföderation und die
sich daraus ergebende Förderung der Minderheitenrechte verbunden
waren, mag einen neuen Anstoß dazu gegeben haben.
Am 18.
August 1949 gab das Politbüro des ZK der BKP grünes Licht für
den um ein Jahr verschobenen Kurs der Aussiedlung.
Es wurde
beschlossen, den Emigrationswilligen aus den Grenzgebieten keine
Hindernisse mehr in den Weg zu legen. Falls die Türkei deren
Aufnahme bis zum Ende des Jahres verweigern sollte, so sei die
Umsiedlung dieses Teiles der Bevölkerung „in nördliche Gegenden
des Landes“ zu organisieren und an ihrer Stelle sollten Bulgaren
angesiedelt werden. Für die praktische Vorbereitung und
Durchführung der Aktion bildete man einen Regierungsausschuß
beim Ministerrat. Die Aussiedlung sollte schrittweise „nach
Etappen und Gruppen“ erfolgen, wobei zuerst alle „türkischen
Reaktionäre und Anstifter“ erfaßt werden sollten. Was die
Pomaken anbetraf, so sollte künftig nach dem Grundsatz verfahren
werden, dass sie „Bulgaren und keine Türken oder irgendeine
Mischung zwischen Bulgaren und Türken“ seien. Und, da in der
Vergangenheit dieser Bevölkerung mit Gewalt turkisiert worden
sei, läge es heute in ihrem Interesse, sich von den Einflüssen
der „türkischen Reaktion“ zu befreien und sich „vollständig mit
dem Bulgarenvolk zu vereinigen“.
Dieser
Beschluß fiel knapp einen Monat, nachdem Vasil Kolarov an die
Spitze des Staates gelangt war, doch wurde die ganze Aktion zu
Zeiten Vălko Červenkovs durchgeführt. Zwischen dem 10. August
1950 und Anfang November 1951 verließen 155.667 Menschen das
Land.
Schon damals
wähnten ausländische Beobachter, dass der Zeitpunkt der
Emigration sowjetischem Einfluß zuzuschreiben sei. Zweimal ließ
die Türkei ihre Grenze schließen, mit der Begründung, unter den
Auswanderern befänden sich auch Zigeuner mit gefälschten Visa.
Doch während im Oktober 1950 diese Maßnahme zu einer Regulierung
der Emigrationswelle führte, sah die Situation ein Jahr später
bereits anders aus. Schon in der ersten Hälfte des Jahres 1951
machten sich nämlich neue Tendenzen im bulgarischen politischen
Kurs bemerkbar. Im Jänner und Februar traf das Politbüro manche
Entscheidungen über die Parteiarbeit mit der türkischen
Bevölkerung, über den Austausch von Delegationen mit
Aserbaidschan, über die Besiedlung des von den türkischen
Auswanderern verlassenen Landes usw.
Im Februar hielt
sich eine aserbaidschanische Kulturdelegation in den von
bulgarischen Türken bewohnten Gebieten auf. Auch der türkische
Dichter Nazım Hikmet besuchte auf dem Weg nach Moskau Bulgarien,
wo er die Muslime zum Verbleiben aufforderte, indem er über die
„Wahrheit vom Leben in der Türkei“ sprach. So bereiteten die
kommunistischen Machthaber noch zu Zeiten des im Höhepunkts der
Auswanderungskampagne den Boden für die Einführung der
sowjetischen Nationalitätenpolitik. Am 26 April 1951 empfahl das
ZK der BKP eine vermehrte Aufnahme von Türken in die Partei. Sie
sollten im „patriotischen Geist“ erzogen werden, um „sich als
Bürger von Bulgarien zu fühlen und zu begreifen, dass sie selbst
aktive Erbauer des Sozialismus und ihres eigenen Glücks“ seien.
Im Mai desselben
Jahres erschienen in der bulgarischen Presse Berichte über die
Rückkehr mancher enttäuschter Auswanderer, und seit dem August
1951 zeichneten sich die Umrisse der neuen Minderheitenpolitik,
die auf die Integrieren der türkischen Bevölkerung in das
alltägliche Leben des Landes ausgerichtet war, immer deutlicher
ab. Gleichzeitig sank auch die Zahl der Auswanderer. Nachdem
schließlich die Türkei zum zweiten Mal ihre Grenze geschlossen
hatte, wurde in Sofia die Politik der Emigration bulgarischer
Türken endgültig fallengelassen.
Die Zeit
Červenkovs am Ende der „Stalin-Ära“ nimmt in der Geschichte der
bulgarischen Türken einen besonderen Platz ein. Parallel zu der
verstärkten Sowjetisierung des Landes wurde in der ersten Hälfte
der fünfziger Jahre auch eine Politik der Erweiterung der Rechte
der türkischen Minderheit in den Bereichen Kultur und Ausbildung
betrieben. Im gewissen Sinne war dies eine Fortsetzung der
sogenannten „Dimitrovschen Periode“, doch während man damals bei
der Überwindung ethnischer Probleme hauptsächlich von den
bulgarischen Traditionen, dem Streben nach dem Aufbau einer
„volksdemokratischen“ Regierungsform und dem Wunschtraum einer
Balkanföderation ausgegangen war, so wurde nun die sowjetische
„Erfahrung“ in die Verhältnisse eines (mono)nationalen Staates
eingebracht. Daher könnte man die Zeitspanne zwischen 1951 und
1958 als eine besondere Etappe in der Geschichte der türkischen
Minderheit bezeichnen. In diesen Jahren wurden viele türkische
Schulen gebaut, neue türkische Zeitungen, Bibliotheken und
Theater gegründet, die geistliche und wirtschaftliche
Entwicklung der muslimischen Bevölkerung sowie die Formierung
einer türkischen Intelligenz wurden angeregt und gefördert, doch
all dies im Rahmen der kommunistischen Ideologie und des
auferlegten sowjetischen Gesellschaftsmodells.
Noch im Jahr
1951 wurden türkische Theater in Chaskovo und Kolarovgrad [Šumen],
später in Kărdžali,
Razgrad und Ruse (1954) u. a. eröffnet. Zu den bereits
vorhandenen türkischen Zentralpresse kamen neue Editionen der
BKP-Bezirkskomitees von Kolarovgrad, Chaskovo, Ruse und Stalin
[Varna]. Die meisten davon erschienen zuerst als
türkischsprachige Beilagen zu entsprechenden bulgarischen
Zeitungen, die sich dann zu gesonderten türkische Periodika
entwickelten, so z. B.
„Kolarovgrad
savaşı“
[Kolarovgrader Kampf, Šumen 1951-1956],
„Rodop
mücadelesi“
[Rhodopenkampf, Chaskovo 1951-1959],
„Tuna
gerçeği“
[Donauer Wahrheit, Ruse 1955-1959],
„Stalin
bayrağı“
[Staliner Fahne, Varna 1956-1959] usw. Ab dem Jahr 1954 begann
man auch eine türkische Zeitschrift
„Yeni
hayat“
[Neues Leben, Sofia] herauszugeben.
Zum Bau
türkischer Schulen: Gab es im Jahr 1952 schon 1020 Haupt- und
drei pädagogische Schulen, die von etwa 97% aller türkischen
Kinder besucht wurden, so stieg die Zahl dieser Schulen im
nächsten Schuljahr 1952/3 auf 1054 und erreichte im Jahr 1957
die Zahl von 1149 Lehranstalten. Darin wurde in der
Muttersprache unterrichtet – das Bulgarische war nur mit ein
paar Stunden vertreten –, wobei die Schuler auch Kenntnisse über
die türkische Geschichte und türkische Literatur vermittelt
bekamen. Besondere Aufmerksamkeit wurde der Errichtung von
türkischen Mittelschulen
und pädagogischen
Instituten geschenkt. Im Jahr 1953 waren schon vier türkische
Gymnasien, drei türkische Abteilungen an bulgarischen
Mittelschulen und drei Institute für die Ausbildung türkischer
Lehrer in Betrieb. Für den Ausbau des türkischen Bildungswesens
in Bulgarien berief man eigens dafür geschulte sowjetische
Fachleute an die verantwortlichen Stellen.
Anfangs wurden
türkische Jugendliche zum Studium an Hochschulen in die
Sowjetunion (hauptsächlich nach
Aserbaidschan)
geschickt, doch schon im Jahr 1954 gründete man einen Lehrstuhl
für „Türkische Philologie“ an der Sofioter Universität, womit
endlich die Voraussetzungen für eine institutionalisierte
Entwicklung der Orientalistik in Bulgarien geschaffen wurden.
Auf diese Weise
bekam die türkische Jugend weit bessere Bildungsmöglichkeiten.
Allerdings richteten sich die Lehrprogramme immer stärker nach
dem ideologischen Hauptziel, nämlich die jungen Türken in die
kommunistischen Ideale einzuführen und sie nach sowjetischem
Muster zu erziehen.
Gleichzeitig führte man eine Reihe von Verbesserungen im
sozialen und ökonomischen Bereich durch. In den von Türken
bewohnten Gebieten begann man Industriebetriebe, Krankenhäuser
und neue Straßen zu bauen sowie den Handel mit staatlicher Hilfe
zu fördern. Es gab auch viele Maßnahmen, um die
gesellschaftlich-politische Einbeziehung der Bevölkerung durch
deren Eingliederung in die Vaterländische Front und die
BKP-Organisationen zu erzielen. Man organisierte
Haushaltslehrgänge für Frauen, Speziallehrgänge für
Krankenschwestern, Ausbildungskurse für Traktoristen und
Brigadiere; man führte regelmäßige Versammlungen mit Vorträgen
durch, worauf – wie nicht anders erwartet – der Schwerpunkt auf
„ideologische Aufklärung“ lag. Bei den Kommunalwahlen des Jahres
1952 wurden z. B. 3291 bulgarische Türken gewählt, darunter 284
Frauen. Zur gleichen Zeit waren etwa 4000 Angehörige der
Minderheit Mitglieder der BKP oder der Vaterländischen Front und
über 18.000 Türken hatten verschiedene verantwortliche Stellen
inne.
Die
verbesserten Lebensbedingungen und die Ausweitung der
Minderheitenrechte spiegelten sich im absoluten Zuwachs der
türkischen Bevölkerung wider. Die Volkszählung des Jahres 1956
registrierte zwar nur 656.025 bulgarische Türken (8,74% der
Gesamtbevölkerung), das bedeutet also eine Abnahme von 19.475
Menschen im Vergleich zum Jahr 1946, wenn man aber auch die
Anzahl der zwischen 1948 und 1951 emigrierten Muslime
berücksichtigt, so wird der reale Zuwachs unter den Türken über
130.000 Menschen betragen haben.
Ob schon zu
dieser Zeit der demographische Aspekt bei der Formierung der
Minderheitenpolitik eine Rolle gespielt hat, läßt sich heute
schwer ermitteln. Bekannt ist, dass er sich erst unter Todor
Žikov, in den siebziger und achtziger Jahren, zu einem wichtigen
Faktor entwickelte, als die Zahl der bulgarischen Türken in etwa
einen zehnprozentigen Anteil an der Gesamtbevölkerung ausmachte.
Unklar ist auch, inwieweit die bis zum Jahr 1956 vertretene
Parteilinie zu einer „Erweckung des türkischen Nationalismus“
beigetragen hat. Mit diesem Argument wurde später die Wende im
Regierungskurs unter Živkov häufig begründet. Gewiß haben die
kommunistischen Machthaber die Entwicklung der Minderheiten im
ersten Jahrzehnt nach dem Krieg gefördert und so zur
Herausbildung einer neuen türkischen Intelligenz beigetragen. Es
wäre aber falsch zu behaupten, dass diese Intelligenz das
Bulgarische nicht beherrscht hätte, da ihre hervorragendsten
Vertreter auch heute noch in das gesellschaftlich-politische
Leben des Landes bestens integriert sind. Wahr ist, dass sowohl
unter Dimitrov als auch unter Červenkov die Lösung des
„Türkenproblems“ im Sinne der stalinistischen
Nationalitätenpolitik versucht wurde. Wenn dies alles in den
vierziger Jahren in Anbetracht der erwarteten Gründung einer
sozialistischen Balkanföderation als gerechtfertigt erschien, so
führte die Applikation des sowjetischen Modells auf die völlig
unterschiedlichen Verhältnisse eines (mono)nationalen Staates
schließlich zu einem unvermeidbaren Widerspruch zwischen den
damaligen Interessen der bulgarischen nationalen Sicherheit und
dem Selbstbestimmungsrecht der türkischen Minderheit. Eben
deshalb kam es am Ende der Stalin-Ära zu einer Wende auch in der
Minderheitenpolitik, die sich nun auf die allmähliche, aber
immer umfassendere Einbeziehung der Türken in die Nation der
Bulgaren richtete. Der neue Kurs widersprach aber keinesfalls
der sowjetischen nationalen Doktrin. Schon Lenin hatte
verkündigt, dass alle Nationen im Kommunismus zu einer
Weltnation mit einer gemeinsamen Sprache zusammenfließen sollen.
Ab dem Jahre 1929 sprach auch Stalin vom neuen Typus der
„sozialistischen Nation“. Später vertrat Chruščev die These von
einer beschleunigten Annäherung der Nationalitäten in der UdSSR
bis zu ihrer vollständigen Vereinigung in einer russifizierten
Sowjetnation. Es ist daher kaum verwunderlich, dass der Adept
seiner Politik, Todor Živkov, die neuen sowjetischen Ansichten
zur Nationalfrage konsequent anwendete.
Die Ära Živkov
(1956-1989)
Die
Richtungsänderung in der Nationalitätenpolitik begann mit dem
Aprilplenum des ZK der BKP im Jahre 1956, das von den
Beschlüssen des 20. Parteitages der KPdSU beeinflußt war. Noch
im selben Jahr wurden die Grundumrisse der neuen
Minderheitenpolitik entworfen. Ihre Hauptprinzipien lauteten wie
folgt: 1. Abgrenzung vom föderativen Modell der UdSSR und
Jugoslawiens, mit der Begründung, Bulgarien sei „kein
multinationaler Staat“ (damit auch die Absage an den bisherigen
Kurs in bezug auf die Integration der Minderheiten), und 2., als
neue Position: „die bulgarischen Türken stellen einen
untrennbaren Bestandteil des bulgarischen Volkes dar“ – der
Beginn einer Politik der Nivellierung von Unterschieden im
ethnischen und kulturellen Bereich. Hätte man bis dahin die
Kulturautonomie der Türken gefördert, wobei man die nationale
Identität vom religiösen Moment zu trennen versuchte, so begann
mit der Machtergreifung Živkovs den umgekehrte Prozeß der
allmählichen Einschränkung der Minderheitenrechte, um den
türkischen Bevölkerungsteil auch durch restriktive Maßnahmen in
die bulgarische Nation einzugliedern. Die Živkov-Ära war
charakterisiert durch eine partielle Rückkehr zu den alten
Traditionen, aber auch durch eine verstärkte Abhängigkeit
Bulgariens vom „großen Bruder“ in Moskau. Im Einklang mit den
Veränderungen an der Spitze der bulgarischen (bzw. sowjetischen)
Staats- und Parteiführung kann die folgende Epoche bis zum
Zerfall des kommunistischen Systems im Jahre 1989 im Bereich der
Nationalitätenpolitik in drei Abschnitte mit weiteren
Differenzierugen eingeteilt werden.
1.
1956-1974. Den
Zeitabschnitt bis zur Mitte der siebziger Jahre kennzeichnen
zahlreiche Plenarsitzungen des ZK über Fragen der bulgarischen
„Türkenpolitik“, wobei – im Namen der sozialen und ökonomischen
Integration – eine zunehmende Reduktion des türkischsprachigen
Unterrichts und vieler anderer Minderheitenrechte erfolgte. Es
kam zu Namensänderungen unter den Pomaken und Roma-Muslimen,
während die türkische Bevölkerung einem starken antireligiösen
Druck ausgesetzt war.
1.1.
1956-1964. Dies
ist die Epoche Nikita Chruščevs. Unter dem Zeichen der „Entstalinisierung“
erfolgten auch in der bulgarischen Minderheitenpolitik eine
Wende und die Aufnahme des Kurses einer neuen Art der
Integration der türkischen Bevölkerung. Im Einklang mit den
neuen sowjetischen Ansichten über die allseitige Annäherung der
Nationalitäten in der UdSSR bis zu ihrer Verschmelzung in einer
„sozialistischen Sowjetnation“ erschien in Bulgarien der
entsprechende Begriff von der „sozialistischen bulgarischen
Nation“, die auch die „sozialistischen nationalen Minderheiten“
in sich einschließen sollte. So wurden die bulgarischen Türken
zu einem „untrennbaren Teil des bulgarischen Volkes“, was breite
Bestrebungen zur Folge hatte, die Möglichkeiten ihrer nationalen
Identifikation zu beseitigen. Bald wurden die türkischen und
bulgarischen Schulen vereinigt und der türkischsprachige
Unterricht auf fakultative Stunden beschränkt. Gegen Ende der
fünfziger Jahre verschwanden vorläufig auch die
Regionalzeitungen „Savaş“, „Rodop mücadelesi“, „Stalin bayrağı“,
„Tuna gerçeği“ (alle bis zum Jahr 1959) sowie die Ausgaben für
Kinder „Eylülcü çocuk“ und „Piyoner“ (bis 1960). Übrig blieben
nur mehr einige Rundfunksendungen und ein paar zentrale
periodische Druckschriften in türkischer Sprache. 1964 unternahm
man auch vereinzelte Versuche, die muslimischen Namen unter den
bulgarischsprachigen Muslimen zu beseitigen, doch musste das
Regime infolge des starken Widerstandes diese Aktion einstellen.
1.2.
1964-1974. Die Ära
Leonid Brežnevs wurde von einer Intensivierung der Integration
begleitet, wobei nun auch der Trend zur Assimilation spürbar
wurde. Man suchte eine Balance zwischen der Einbeziehung der
türkischen Bevölkerung und der „Befreiung“ von ihrem
unzuverlässigen Teil durch Auswanderung zu erreichen.
Nachdem
Chruščev
im Oktober 1964 als Generalsekretär abgesetzt worden war und der
für die achtziger Jahre verkündete „Eintritt in den Kommunismus“
auf ungewisse Zeit verschoben werden mußte, stagnierte zunächst
auch der nationale Integrationsprozeß in Bulgarien. Es
erscheinen wieder neue türkische Lokalzeitungen, wie z. B. „Komunizm
bayrağı“ [Kommunistische Fahne, Tărgovište
1964 f.], „Dostluk“ [Freundschaft, Razgrad 1964 f.], „Ziya“
[Licht, Silistra 1965 f.], „Halk davası“ [Volkssache, Varna,
1965 f.], „Kolarovgrad savaşı“ [Kolarovgrader Kampf, Kolarovgrad
1965], eine Zeitung, die ab 1966 unter dem Titel „Ziya“ [Licht,
Šumen] herausgegeben wurde. In den Schulen lernte man weiter
Türkisch. In dieser Sprache wurden sowohl Lehrbücher als auch
ausgewählte Werke der Belletristik veröffentlicht. Die
Rundfunkstationen in Sofia, Šumen und Kărdžali
sendeten spezielle Programme auf Türkisch; es entwickelte sich
auch die „Türkische Philologie“ an der Sofioter Universität, die
nun auch den bulgarischen Studenten zugänglich gemacht wurde.
Mit der Abschaffung von Lehrfächern, wie z. B. der türkischen
Volkskunde oder der Dialektologie, zeigten sich jedoch bereits
bestimmte Tendenzen in der Umsetzung der Minderheitenpolitik.
Die
Volkszählung des Jahres 1965 ergab die Zahl von 746.755
bulgarischen Türken, was 9,19% der Gesamtbevölkerung entsprach,
also neuerlich
einen Zuwachs im Vergleich zum Zensus des Jahres 1956. Dies
veranlaßte die Regierung erneut, nach der Auswanderung als
geeignetem Mittel für die Lösung des „Türkenproblems“ zu
greifen. Im Jahr 1968 wurde zwischen Sofia und Ankara ein
Abkommen über Familienzusammenführung geschlossen, das etwa
30.000 Menschen umfassen sollte. Doch die 81.299
Aussiedlungsanträge übertrafen bei weitem die Erwartungen. Der
großen Mehrzahl der Türken, die im Lande bleiben wollten, drohte
ein anderes Schicksal. Am 25. Februar 1969 faßte das Politbüro
den Beschluß über die „Beschleunigung des natürlichen Prozesses
zur Überwindung der ethnischen Unterschiede“, und am 19. April
1969 einen weiteren über den „kulturellen Aufschwung der
werktätigen Türken“.
Dementsprechend
wurde auch das Grundgesetz geändert. Die neue „Živkovsche“
Verfassung von 1971 erkannte keine nationale Minderheiten mehr
an. Sie räumte in Art. 45, Abs. 7 den „Bürgern nichtbulgarischer
Abstammung“ lediglich das individuelle Recht ein, „auch ihre
eigene Sprache“ zu erlernen. Gleichzeitig hat die von Brežnev
lancierte These von einem „einheitlichen Sowjetvolk“ (1971) ihre
Reflexion in dem zwischen 1971 und 1973 in Bulgarien
eingeführten Begriff „einheitliche sozialistische Nation
der Bulgaren“ gefunden. Der Weg dorthin führte über die
„Bulgarisierung“ der Namen der gesamten bulgarisch-muslimischen
Bevölkerung, wobei Unruhen in den Gebieten von Pazardžik,
Stara Zagora, Smoljan, Blagoevgrad usw. ausbrachen. Auch im Jahr
1974 kam es zu Zusammenstößen, als alle Moscheen mit Ausnahme
jener von Sofia vorläufig geschlossen wurden.
2.
1974-1984. Diese
Periode, vom politishen Aufstieg der
Tochter Todor Živkovs,
Ljudmila Živkova, gekennzeichnet, begann mit dem Plenum des ZK
vom 7.–8. Februar 1974, auf dem Aleksandãr
Lilov einen Vortrag über die Verstärkung der ideologischen
Arbeit hielt. Dies gab den Anstoß zur beschleunigten Errichtung
einer „sozialistischen Einheitsnation“. Lilovs Referat plädierte
für die Ausarbeitung einer „Gesamtkonzeption eines Systems der
Feste des bulgarischen Volkes“ und sprach von der Notwendigkeit
der „nationalen Besinnung und patriotischen Erziehung“ der
bulgarischen Muslime sowie von der vollständigen
„ideologisch-politischen Einbeziehung der Bevölkerung türkischer
Herkunft“. Die Propaganda wurde unter anderem vor die Aufgabe
gestellt, „auch auf die Psyche der Persönlichkeit“ (sic!)
einzuwirken, um „bestimmte Emotionen, Stimmungen und Wünsche“ zu
erwecken. Beim Staatsrat der Republik wurde ein „Rat zur
Entwicklung der geistigen Werte“ unter Ljudmila Živkova gegründet,
dessen Vizepräsident, Şukri Tahirov, ebenso wie andere türkische
Protagonisten aktiv bei der Errichtung eines „Systems der
sozialistischen Feste und Bräuche“ und bei der Beseitigung des „Ethnozentrismus“
der türkischen Bevölkerung unter Berücksichtigung ihrer Aufnahme
in die „sozialistischen Einheitsnation“ mitwirkten. Mit der
Schließung der Moscheen im Jahre 1974 begann eine breite
atheistische Offensive mit dem Ziel, die religiösen Rituale
durch solche ethnisch-neutralen Charakters zu ersetzen. Man
machte Front gegen muslimischen Traditionen und die
traditionelle Bekleidung, darüber hinaus erschienen auch
Veröffentlichungen über die bulgarische Abstammung der
türkischsprachigen Muslime. Im Jahr 1977 behauptete man,
„Bulgarien sei fast gänzlich einem ethnischen Typ zugehörig und
laufe auf eine vollständige Homogenität hinaus“. Damals wurde
auch das bulgarisch-türkische Zusatzprotokoll unterzeichnet, mit
dem eine Aussiedlung von weiteren 62.000 bulgarischen Türken
vereinbart wurde. Somit endete die schon zehn Jahre dauernde
„Familienzusammenführung“, in deren Verlauf sich etwa 130.000
Menschen in der Türkei niederließen.
Im Jahr darauf
nahm man auch keine weiteren Studenten für das Fachgebiet
„Turkologie“ mehr auf, später wurden die türkischsprachigen
Rundfunksendungen reduziert und die wenigen verbliebenen
türkischen Zeitungen begannen nun „zweisprachig“ zu erscheinen,
1979 schließlich erklärte Todor Živkov die nationale Frage im
Lande für endgültig gelöst. So wurden alle Voraussetzungen für
die letzte „Integrationsphase“ geschaffen, die Ende 1984 mit dem
Angriff auf die türkischen Namen begann.
3.
1984-1989. In diesen
Zeitabschnitt fällt der sogenannte „Prozeß der Wiedergeburt, der
mit massenhaften Namensänderungen der bulgarischen Türken begann
und mit weiteren Maßnahmen zur gewaltsamen Einschränkung ihrer
nationalen Identität seinen weiteren Verlauf nahm. So wurden die
türkischen Zeitungen und Rundfunksendungen endgültig verboten,
auch das Tragen der muslimischen Frauentracht, der offene
Gebrauch des Türkischen und die rituelle Beschneidung sowie
andere islamische religiöse Bräuche untersagt. Für viele
Beobachter von außen sowie für die Mehrheit der Bulgaren kam der
Versuch einer vollständigen Assimilierung der Minderheit ganz
unerwartet. Bis dahin hatte der bisherige Integrationskurs gute
Ergebnisse gezeigt. Der materielle Wohlstand der bulgarischen
Türken hatte sich erhöht, und in kultureller Hinsicht hatten sie
das durchschnittliche Bildungsniveau der Bevölkerung in der
Türkei weit überholt. Sieht man einmal vom ideologischen Druck
ab, dem ja die gesamte Bevölkerung Bulgariens ausgesetzt war, so
hatten die Türken im Lande definitiv bessere Perspektiven als in
der vorkommunistischen Zeit nach 1934. Warum also hatte die
Parteispitze den Entschluß gefaßt, die türkische Frage auf solch
drastische Weise zu lösen? Die Erklärung dafür muß man wohl in
einem Komplex von Ursachen und Umständen suchen, die schließlich
zur Aktion von 1984-85 geführt haben.
Sicherlich
haben die Befürchtungen über die Auswirkungen der Propaganda von
seitens Ankaras, die der feindseligen Stimmung im Lande Nahrung
gab, eine gewisse Rolle gespielt. Diese Propaganda wirkte als
Hemmschuh bei der Säkularisierung der Muslime und behinderte
somit die Einbeziehung der Türken in die sozialistische
Gesellschaft, was wiederum die begonnene Modernisierung
Bulgariens behinderte. Sehr oft wurde in diesem Zusammenhang
auch die Zypern-Frage erwähnt, doch erscheint der Gedanke an die
Gefahr einer Teilung wie in Zypern als viel zu spekulativ, da in
einer Zeit der Konfrontation der Blöcke eine solche Entwicklung
als höchst unwahrscheinlich angesehen werden muß. Weitaus
wichtiger mögen wohl die demographisch bedingten Erwägungen
gewesen sein. Durch die niedrige Geburtenrate unter den Bulgaren
bei gleichzeitig doppelt so hohem Zuwachs unter den Türken und
Roma zeichnete sich nach Meinung der Regierung eine ungünstige
Tendenz für das Volk der Bulgaren ab. Laut einiger
Presseberichte aus dem Jahr 1983 wuchs die Bevölkerung in den
Bezirken mit überwiegend türkischen Einwohnern sechsmal
schneller an als im bulgarischen Durchschnitt. Dies beunruhigte
so manchen um so mehr, als die Türken schon damals mehr als 10%
der Bevölkerung Bulgariens ausmachten und für Dezember 1985 eine
neue Volkszählung geplant war. Wohl auch deswegen wurden
1980-1985 die Personalausweise erneuert, wobei man über eine
viertel Million Roma unter neuen bulgarischen Namen
registrierte. In Anbetracht des bevorstehenden 100. Jubiläums
von der Vereinigung Bulgariens (1885) und des 110. Jahrestags
des April-Aufstandes (1876) erschien dies gemäß dem
ideologischen Plan als ein günstig ausgewählter Zeitpunkt zur
„Homogenisieren“ der bulgarischen Nation.
Im Falle
der türkischen Minderheit war man vor die Frage gestellt, ob man
sie durch eine neuerliche Auswanderungsvereinbarung zahlenmäßig
reduzieren sollte oder ob vielleicht andere Lösungen zu suchen
wären, die das Anwachsen der muslimischen Bevölkerung und damit
gleichzeitig die Gefahr einer wie auch immer gearteten Autonomie
verhindern könnten. Offensichtlich wurden beide Möglichkeiten in
Erwägung gezogen. Nach Mitteilung des damaligen türkischen
Präsidenten Kenan Evren soll der bulgarische Staatschef Todor
Živkov 1982 an ihn die Frage nach den Aussichten einer
Fortsetzung der Emigration gerichtet haben.
Vielleicht trug
die negative Antwort Evrens zur Entscheidungsfindung bei.
Daß der
sogenannte „Prozeß der Wiedergeburt“ schon seit langem
vorbereitet worden war, ist aus der Untersuchung einer von
Aleksandăr Lilov geleiteten Expertengruppe im Jahre 1982
ersichtlich, die auch die möglichen negativen Folgen eines
solchen Unternehmens in Rechnung zog, und bereits 1978 erklärte
Şukri Tahirov ganz offen, dass der Prozeß der Annäherung und
Einbeziehung der bulgarischen Türken „das Verschwinden der
einzelnen (ethnischen u. a.) Besonderheiten“ zum Ziel habe, und
dass die Politik des „allmählichen Auslöschens der ethnischen
Differenzen“ letzten Endes zur „Formierung einer neuen
sozial-ethnischen Gemeinschaft“ führen solle.
Daraus ist klar
ersichtlich, in welche Richtung die bulgarische
Minderheitenpolitik gehen sollte. Später räumten manche Staats-
und Parteifunktionäre ein, dass „der Prozeß der Wiedergeburt“
eigentlich schon unmittelbar nach dem April-Plenum 1956 begonnen
habe und sich in den sechziger und siebziger Jahren unter den
bulgarischen Muslimen verwirklichte, um sich dann „mit neuer
Kraft, spontan und umfassend“ unter den übrigen Muslimen
auszubreiten.
Bei der
Errichtung der „sozialistischen Einheitsnation“ wäre man früher
oder später zur „Bulgarisierung“ der Türken geschritten. Dies um
so mehr, als die Umbenennung der Roma und Pomaken ohne besondere
Erschütterungen vonstatten gegangen war, weswegen die
Parteispitze auch hinsichtlich der türkischen Bevölkerung keine
besonderen Probleme erwartete. Trotz der Anpassung an die
politischen Veränderungen in Moskau hielt Živkov an der
sogenannten „April-Linie“ der Partei fest. So blieben z. B. nach
der Absetzung Chruščevs die Direktiven des 8. Kongresses der BKP
zur Entwicklung des Landes bis zum Jahr 1980 in Kraft, obwohl zu
diesem Zeitpunkt schon die „Errichtung der materiell-technischen
Basis des Kommunismus“ hätte beginnen sollen. In den achtziger
Jahren scheint auch die Politik zur Integration der Minderheiten
auf dieses Ziel hin orientiert gewesen zu sein, denn man
erwartete offensichtlich, dass dann auch die letzten
Unterschiede zwischen den einzelnen Teilen der neuen
„sozialistischen Nation“ beseitigt sein würden.
Andererseits
pflegte man fast überall auf dem Balkan die Minoritätenfragen
auf ähnlich drastische Art und Weise zu regeln. So erhielten die
Familiennamen der Bulgaren in Jugoslawien serbische Endungen und
die Bulgaren wurden offiziell als Serben, Makedonier oder sogar
als „Šopen“
bezeichnet, während die Namen der Slawen in Griechenland
hellenisiert wurden, so daß man von „slawophonen Griechen“
sprach.
Auch in der Türkei
selbst existierte die Praxis einer obligatorischen Änderung der
Familiennamen; gemäß Verfassung wurden dort alle Untertanen zu „Türken“
erklärt. Man erlaubte die Verbreitung von
Druckerzeugnissen in keiner anderen Sprache als der türkischen,
und mit dem Parteigesetz vom Jahr 1983 war die Pflege der
Identität von Minoritäten mittels nichttürkischer Sprachen und
Kulturen verboten. Ähnlich wie im Bulgarien wurden auch hier
seit 1975 keine statistischen Daten mehr über die ethnischen und
religiösen Minderheiten publiziert. So verwandelten sich mit der
Zeit in den offiziellen Veröffentlichungen beispielsweise die
Lasen in „Küstentürken“; die Araber wurden zu „Türken arabischer
Zunge“, und die Kurden erklärte man für „Gebiergstürken“, sogar
mit einer entsprechenden türkischen Etymologie des Ethnonyms („Kürd“
aus türkisch „kurt“, d. h. „Wolf“). Ähnlich versuchte nun auch
die kommunistische Spitze Bulgariens bei der Lösung der
„Türkenfrage“ vorzugehen.
Man darf
darüber hinaus nicht außer Acht lassen, dass gegen Ende der
Brežnev-Ära in diese Richtung zielende Tendenzen auch in der
Sowjetunion existierten. Anläßlich der Diskussion über das
Projekt einer neuen Verfassung im Jahre 1977 gab es
beispielsweise den Vorschlag, den Begriff „einheitliche Nation“
statt „einheitliches Sowjetvolk“ einzuführen und die
Unionsrepubliken aufzulösen. Brežnev kritisierte zwar einerseits
diese künstliche Beschleunigung der Integration, andererseits
verhinderte er jedoch auch Versuche, diesen Prozeß aufzuhalten
und behauptete öfters (ähnlich wie Živkov), dass die „nationale
Frage“ in der UdSSR endgültig gelöst sei. Auf der These des
„einheitlichen Sowjetvolkes“ beharrte auch Jurij Andropov. Ende
1982 sprach auch er wieder vom ideologischen Ziel, durch die
wirtschaftliche Integration und Russifizierung eine sowjetische
Einheitsnation zu schaffen, in der alle ethnokulturellen
Unterschiede verschwinden sollten. Kurz danach wurde der Bericht
der Expertengruppe Lilovs ausgearbeitet.
Diese
Übereinstimmungen sind nicht zufällig. Das Forcieren des
Assimilationskurses gerade zur Zeit Jurij Andropovs und
Konstantin Černenkos, als die Krise des Sowjetregimes von einer
Verschärfung der internationalen Spannungen begleitet wurde,
zeigt deutlich, wie groß die Abhängigkeit Bulgariens von der
Sowjetunion war. Und wenn es keine Beweise für irgendeine
russische Beteiligung bei der Durchführung des „Prozesses der
Wiedergeburt“ gibt, sind seine Voraussetzungen eigentlich im
ideologischen Diktat Moskaus begründet, was auch den Kurs der
„allseitigen Annäherung zwischen Bulgarien und der UdSSR“
bedingte.
Trotzdem
kam die Aktion der Namensänderung sehr überraschend. Nichts
deutete im Jahr 1984 auf die bevorstehenden Ereignisse hin. In
den Massenmedien und in der wissenschaftlichen Literatur
benutzte man den Ausdruck ”bulgarische Türken” weiter, woraus
ersichtlich ist, dass der Entschluß zum sogenannten ”Prozeß der
Wiedergeburt” nur der Parteispitze bekannt war und die
offizielle Begründung, es gäbe keine türkische Bevölkerung im
Lande, erst später ausgearbeitet wurde. Am 8. Mai 1984 wurde im
Politbüro ”Über die weitere Vereinigung und Einbeziehung der
bulgarischen Türken in die Sache des Sozialismus, in die Politik
der BKP” referiert. Auf dieser Sitzung erinnerte Živkov, daß die
ethnische Gruppe der Türken schon sehr zahlreich geworden sei
und man offenbar auch künftig mit Versuchen zu ihrer
Destabilisierung zu rechnen habe. Trotzdem betonte er, dass ”wir
einen großen politischen Fehler begehen würden, falls man nun
den bulgarischen Türken zu beweisen begänne, daß sie eigentlich
ihrer Ursprung nach zur Zeit des Osmanenjochs turkisierte
Bulgaren seien“.
Später jedoch
vertrat man genau diese These.
Im Juni
1984 mehrten sich die Fälle, in denen Angehörige der Minderheit
mit den neuen Personalausweise auch neue bulgarische Namen
erhielten. Es handelte sich vor allem um die schon begonnene
”Rebulgarisierung” pomakischer Frauen und Kinder aus gemischten
Ehen, doch rief dieses Vorgehen den Widerstand der Betroffenen
hervor. Am 30. August 1984, dem Vorabend des Nationalfeiertags
Bulgariens, als man den 40. Jahrestag der ”Sozialistischen
Revolution” vom 9. September 1944 vorbereitete, explodierte auf
dem Parkplatz des Flughafens von Varna eine Bombe, die zwei
Frauen verwundete. Eine halbe Stunde später erfolgte eine
weitere Explosion im Warteraum des Bahnhofs von Plovdiv – ein
Mensch starb, 44 Personen wurden verletzt.
Einigen westlichen
Nachrichtenagenturen zufolge hatte man zu eben dieser Zeit in
Plovdiv und Varna den Staatschef Živkov erwartet. Offensichtlich
waren ähnliche Terrorakte auch in Burgas, Ruse, Šumen und Tărgovište
geplant.
Wenig später
entdeckten die Sicherheitsorgane in einem Bauernhaus in der
Umgebung von Varna ein ganzes Waffendepot. Doch die Vermutungen
Georgi Slavovs, dass es sich in diesem Fall um eine Inszenierung
seitens der Staatssicherheit gehandelt hätte, bestätigte sich
nicht.
Schon damals
vermutete man eine ”türkische Spur” in den Bombenangriffen,
und später wurden
die Täter dieser und auch anderer Terrorakte
festgenommen.
Dies alles
beschleunigte wohl den Beginn des „Prozesses der Wiedergeburt“,
und damit sollte sich auch schon bald das Schicksal der
türkischen Minderheit entschieden. Die Kampagne gegen die
Minderheit selbst begann um Weihnachten – zuerst in den Bezirken
von Kărdžali
und Chaskovo, dann aber auch in anderen Teilen des Landes. Ihren
Ausgang nahm sie in den östlichen Rhodopen und breitete sich
dann in Mittel- und Nordostbulgarien aus, um schließlich alle
von Türken bewohnten Ortschaften einzuschließen. Die Aktion lief
fast überall ähnlich, was auf ein vorbereitetes Szenario
hindeutete. In letzter Minute hatte man die örtlichen
Parteiaktivisten informiert, die die notwendige Unterstützung
gewähren sollten, dann sperrten Sicherheitskräfte die
entsprechenden Dörfer ab. Telefonleitungen wurden unterbrochen
und Personen, bei denen sich eine Waffe fand, oder die als
vermutete Mitglieder illegaler Organisationen galten, wurden
festgenommen.
Den anderen
Einwohnern wurden die Identitätsurkunden abgenommen und sie
waren gezwungen, Deklarationen zu unterschreiben, in denen sie
versicherten, keine Verwandte in der Türkei zu haben, nicht
auswandern zu wollen und freiwillig und auf eigenen Wunsch um
die Änderung ihrer ”arabisch-türkischen” Namen anzusuchen.
Die
administrative Willkür, die von mehreren Gewalttaten begleitet
wurde, stieß auf unerwarteten Widerstand. In vielen Ortschaften
kam es zu Zusammenstößen, bei denen Waffen zum Einsatz kamen. Es
gab Tote und Verwundete, eine große Zahl Türken wurde verhaftet.
Ausländischen Berichten zufolge seien in Momčilgrad im Gebiet
von Kărdžali,
sogar Panzer eingesetzt worden, wobei etwa 40 Menschen starben.
Amnesty International
führt das Beispiel des Dorfes Gorski Izvor an, in dem man von
sechs getöteten und 40 verletzten Bauern berichtete.
Im
Südost-Bulgarien habe man gegen die Demonstranten die
Spezialeinheiten der ”Roten Barette” eingesetzt, und bei den
Zusammenstößen seien bis zu 60 (nach türkischen Angaben sogar
800) Menschen getötet worden.
Zu ähnlichen
Ereignissen ist es auch in anderen Orten gekommen. Nach
Berichten von Augenzeugen, die später in die Türkei gelangten,
erinnerte dies alles „an eine Schlacht”.
Laut der erst in
den neunziger Jahren veröffentlichten bulgarischen Angaben
jedoch soll die Gesamtanzahl der Opfer bei weitem nicht so hoch
gewesen sein. Man erwähnt insgesamt sieben ”zufällig” zu Tode
gekommene Menschen, und zwar einen im Dorf Mogiljane, zwei im
Dorf Kajalovo, zwei im Dorf Gruevo und je einen in Kărdžali
sowie in Momčilgrad.
Mitte
Januar 1985 fand im Plenum der Vortrag Georgi Atanasovs über die
Namensänderungen die volle Zustimmung des ZK der BKP. Zur selben
Zeit wurde von der Abteilung ”Ideologische Politik” beim
Zentralkomitee ein ausführliches Programm ”Über die entschiedene
Hebung des Niveaus der ideologischen Arbeit unter den Bulgaren
mit wiederhergestellten Namen” ausgearbeitet. Darin wurden
konkrete Maßnahmen zur weiteren Assimilierung der bulgarischen
Türken vorgesehen, so z. B. zur Durchsetzung der neuen Namen,
das Propagieren der These von der bulgarischen Herkunft der
türkischen Bevölkerung, über die verstärkte Erlernung des
Bulgarischen und dessen Verwendung in allen öffentlichen
Bereichen – für Parteimitglieder sogar in der Familie. Die
Einflüsse des Islam wollte man überwinden durch ”systematische
politische Arbeit mit den Imamen”, durch die Errichtung
gemeinsamer einheitlicher Friedhöfe, durch die Beseitigung der
Beschneidung und aller religiös bedingter Feste usw.
Nach einer
Beratung des Zentralkomitees am 25. Jänner 1985 wurden ähnliche
Anweisungen zur Durchführung dieser Maßnahmen auch den örtlichen
Parteiorganisationen gegeben. Gleichzeitig wurden die
Namensänderungen durchgeführt: Bis zum 11. Februar hatten schon
etwa 814.000 Menschen neue bulgarische Namen erhalten, und auch
die ”übrigen” turkophonen Muslime mussten mit diesen Maßnahmen
rechnen.
Sehr
rasch reagierte die Öffentlichkeit in der Türkei. Bereits am 21.
Jänner 1985 demonstrierte eine Gruppe von Frauen vor dem
Parlamentsgebäude in Ankara für die Autonomie der türkischen
Minderheit in Bulgarien. Die Regierung Turgut Özals gab sich
zunächst gelassen. Der Premierminister hielt sich mit einer
Stellungnahme zurück und betonte später, man könne vorläufig
nichts tun, weil sich Bulgarien und die Türkei in zwei
verschiedenen Militärblöcken befänden.
Am 27. Jänner
forderte der Außenminister Vahit Halefoğlu die Bevölkerung auf,
Ruhe zu bewahren und erklärte, dass die Lösung des Problems den
bilateralen Beziehungen keinen Schaden zufügen solle.
Die regierenden
Kreise der Türkei spielten mit dem Gedanken, Verhandlungen über
ein neues Aussiedlungsabkommen aufzunehmen.
Am 20. Februar
wurde die Frage auch in der geschlossenen Sitzung des türkischen
Meclis diskutiert. Zwei Tage nach den Debatten händigte das
Außenministerium dem bulgarischen Botschafter eine offizielle
Protestnote aus, worin die Ende der Gewalt und ein
Ministertreffen zwecks Verhandlungen über ein neues
Auswanderungsabkommen gefordert wurden. Sofias Antwort war aber
negativ. Die Bulgarische Telegrafenagentur [Bălgarska Telegrafna
Agencija, BTA] bezeichnete die Note als eine ”Einmischung in die
inneren Angelegenheiten” und merkte dazu an, dass ein Land,
welches einst so brutal gegen Armenier und Griechen vorgegangen
sei und neuerdings seine eigene kurdische Minderheit zu
vernichten trachte, keinen Grund zu Ansprüchen habe und nicht
das Recht besitze, sich in rein bulgarische Probleme
einzumischen. Dies verursachte neue Aufregung: die Istanbuler
Zeitung „Güneş“ setzte das Bulgarien Živkovs mit dem Dritten
Reich Hitlers gleich; im Fernsehen sprach Mesut Yılmaz
von einem Genozid der bulgarischen Türken, und am 25. Februar
erklärte Turgut Özal in einer Rede in Erzurum, dass sein Land
bereit sei, neue Einwanderer aufzunehmen und den ”Landsleuten”
aus Bulgarien jeden nötigen Beistand zu leisten.
So trat die
bulgarisch-türkische Kontroverse in eine neue Phase ein. Nach
dem Zweiten Weltkrieg entwickelten beide Länder eine Haltung
gegenüber der türkischen Minderheit in Bulgarien, die von
Stereotypen geprägt war. Während die BKP diese in die
”sozialistische Modernisierung der Gesellschaft” einzubeziehen
versuchte – daher der atheistische, ideologische, später aber
auch der assimilatorische Druck – , kämpfte die Türkei ihren
eigenen nationalen Interessen entsprechend um die Bewahrung der
religiösen und ethnischen Identität dieser Menschen. Nun schien
die Zeit gekommen zu sein, den langjährigen Streit ein für
allemal aus der Welt zu schaffen. Deshalb wurden von beiden
Seiten entsprechende Maßnahmen getroffen. Die Türkei wandte sich
ab 1985 verstärkt an die Weltöffentlichkeit und nutzte jede
Gelegenheit, um mittels internationaler Gremien Druck auf Sofia
auszuüben. Die kommunistische Führung Bulgariens entschied, sich
des ”türkischen Problems” auf eigene Art und Weise zu
entledigen.
Ende Februar
1985 berief Živkov eine geschlossene Sitzung des Politbüros und
des Sekretariats des ZK der BKP ein, in der die offizielle
Position Bulgariens in dieser Angelegenheit präzisiert wurde. In
diesem Plenum kristallisierte sch heraus, dass die Kampagne
nicht zur Ausübung eines neuen ”Druck zur Auswanderung” diente,
sondern die Politik der BKP aus den sechziger und siebziger
Jahren zur Errichtung einer ”ethnisch monolithischen
bulgarischen Nation” wiederaufnahm. Bald wurden die
Parteiaktivisten und die Bezirkskomitees der BKP in den Gebieten
mit überwiegend türkischer Bevölkerung mit den Beschlüssen des
Plenums bekanntgemacht. Mit
dieser Aufgabe waren die höchsten Staats- und Parteifunktionäre
beauftragt worden. Überall erläuterten sie die neue Parteilinie
und gaben Anweisungen zur Fortführung des ”Prozesses der
Wiedergebur”. In vielerlei Hinsicht waren ihre Reden nahezu
identisch, sie enthielten sogar vollständig gleichlautende
Abschnitte, was darauf hinweist, daß sie sich alle auf eine
gemeinsame Vorlage stützten. Offensichtlich hatte dazu der
Vortrag gedient, der auf dem Plenum von Februar 1985 als
programmatische Urkunde angenommen worden war.
Die neu
formulierte bulgarische Position wurde in allen offiziellen
Deklarationen eifrig verteidigt. Gleichzeitig sollten die noch
verbliebenen Zeugnisse türkischer kultureller Identität
beseitigt werden. Die bis 29. Jänner 1985 zweisprachige Zeitung
„Yeni ışık“ [Neues Licht] ebenso wie die Zeitschrift „Yeni hayat“
[Neues Leben] erschienen nunmehr auf Bulgarisch, und auch die
wenigen noch vorhandenen türkischsprachigen Rundfunksendungen
wurden vollständig eingestellt. Man forcierte die ”Beseitigung
der türkischen Spuren” in der bulgarischen Toponymen; die
Verwendung des Türkischen als Umgangssprache in der
Öffentlichkeit wurde verboten; ebenso wurden Maßnahmen zur
Beseitigung aller von der islamischen Tradition her stammenden
Merkmale, wie z. B. die Beschneidung, das Tragen von
Pluderhosen, die Beachtung bestimmter Bräuche usw. ergriffen.
Dies alles entsprach dem im Jänner 1985 verabschiedeten
ZK-Programm für die ideologische Arbeit unter der türkischen
Bevölkerung. Die konkreten Bulgarisierungsmaßnahmen wurden auf
den im März 1985 begonnenen Beratungen der Bezirkskomitees der
BKP mit den örtlichen Staats-, Partei-, Wirtschafts- und
Gesellschaftsorganen diskutiert. Auf diesen Sitzungen fand der
neue Kurs auch die volle Unterstützung vieler angesehenen
Minderheitenvertreter, und ihre Äußerungen sowie Materialien
über die bulgarische Herkunft der Bevölkerung einzelner
Ortschaften wurden in der regionalen Presse und in den
ehemaligen türkischen Ausgaben „Neues Licht“ und „Neues Leben“
veröffentlicht. Mit der Zeit entfaltete sich eine breite
„Aufklärungskampagne”, an der sich fast alle örtlichen
Parteikomitees und Gemeindeämter, gesellschaftliche
Organisationen, Lehrer, Brigadiere, Betriebsleiter, Journalisten
u. a. beteiligten.
Im Sommer
desselben Jahres wurden in zwei der Bezirken mit der größten
Anzahl türkischer Bevölkerung Plenarsitzungen der
Bezirkskomitees der BKP abgehalten, auf denen man die weiteren
Maßnahmen zur Intensivierung des ”Prozesses der Wiedergeburt”
präzisiere. Am 15. Mai erklärte der ZK-Sekretär Stojan Mihajlov
in Kărdžali
erneut die Parteilinie und sprach von der Notwendigkeit der
Bekämpfung sämtlicher Besonderheiten der traditionellen
muslimischen Lebensweise, während des ersten Sekretär des
Bezirks, Georgi Tanev, ausführlich den Stand und die künftigen
Aufgaben der ideologischen Arbeit erörterte. Einen Monat später
wurde eine ähnliche Sitzung auch in Chaskovo in Anwesenheit des
Politbüromitgliedes Jordan Jotov abgehalten. Hier betonte der
erste Bezirkssekretär Stojan Stojanov, daß der ”Prozeß der
Wiedergeburt” bereits unmittelbar nach dem April-Plenum 1956
eingesetzt habe, und sprach sich für seine endgültige Vollendung
einschließlich ”strenger Strafmaßnahmen”
aus. Dieser
Vortrag spiegelte eigentlich die schon im Februar 1974 von
Aleksandăr Lilov
formulierten und nun im Laufe des ”Prozesses der Wiedergeburt”
aktualisierten Hauptaufgaben der ideologischen Tätigkeit der BKP
wider. In der Folge wurde auf die Bevölkerung der Ostrhodopen
stärkster Druck zur ”Formierung eines bulgarischen patriotischen
sozialistischen Selbstbewußtseins” und zur Auslöschung aller
Spuren und ”Überreste der Sklavenvergangenheit” ausgeübt. Man
begann sogar mit der Beseitigung der osmanischen Grabsteine der
alten türkischen Friedhöfe, und nur die Intervention kompetenter
Fachleute verhinderte die ausnahmslose Vernichtung dieses
wertvollen epigraphischen Quellenmaterials. Vielerorts aber
machte man die türkischen Friedhöfe dem Erdboden gleich und
setzte die verstorbenen Muslime auf „bulgarische Weise“ in den
„einheitlichen Friedhöfen“ mit „einheitlichen Symbolen und
bulgarischen Inschriften“ bei. Die muslimisch geprägten Feste
und die traditionelle Bekleidung wurden verboten, die
Beschneidung bestrafte man mit bis zu fünf Jahren Haft, und zwar
wegen „Körperverletzung“. Es wurden auch die alten Namen vieler
Orten und Siedlungen geändert.
In den
nächsten zwei Jahren wurde der antiislamische Druck ein wenig
gelockert. Die kommunistischen Machthaber Bulgariens
befleißigten sich gegenüber den konfessionellen Bedürfnissen der
muslimischen Bevölkerung einer eingeschränkten Toleranz.
Gleichzeitig aber
wurde die totale ethnische Assimilation vorangetrieben. Aus den
Buchhandlungen verschwanden Bücher in türkischer Sprache; die
Staatssicherheitsorgane durchsuchten die Wohnungen türkischer
Intellektueller und beschlagnahmten viele Bücher und
Manuskripte. Nicht nur aus privaten Sammlungen, sondern auch aus
öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken wurden Bücher
über das Vorhandensein einer türkischen Minderheit in Bulgarien
ausgesondert und versteckt. Sogar türkische Wörterbücher wurden
auf Befehl „von oben“ in einen geschlossenen Fonds verbracht, zu
dem der Zugang einer besonderen Erlaubnis bedurfte. Die Verlage
begannen, bei Arbeiten über die türkische Problematik besonders
„wachsam“ zu werden, die Redakteure handelten nach bestimmten
Anweisungen. Sogar die Lexikographen wurden dazu aufgefordert,
Lehnwörter, die zur Osmanenzeit in die bulgarische Sprache
eingedrungen waren, nicht als „türkisch“ zu bezeichnen.
Viele
Wissenschaftler und Intellektueller aus den Reihen der
türkischen Bevölkerung wurden unter ständige Beobachtung
gestellt. Manchem von ihnen gelang es, in die Türkei zu
emigrieren, wie z. B. der 1987 dem ”Parteihistoriker” der
Minderheit, Jusein Memišev [Hüseyin Memişoğlu].
Andere verloren ihren Arbeitsplatz und wurden ins Gefängnis
gebracht, einige starben, während die Mehrheit dazu gezwungen
wurde, sich der neuen innenpolitischen Lage anzupassen und
allerlei Deklarationen zur Rechtfertigung der Parteilinie zu
unterschreiben. Schon zu Beginn der Kampagne der „Wiedergeburt“
waren die meisten unzufriedenen Türken festgenommen worden. Nach
Schätzungen des Emigrantenvereinigung „Balk-Türkler Derniği“
belief sich die Gesamtanzahl der politischen Häftlinge unter den
Bulgarientürken im Jahre 1986 auf 100.000 Menschen.
Von
Jänner bis Juni 1986 wurden etwa 100 Personen verhaftet, die mit
der Untergrundorganisation „Uzun kış“ [Der Lange Winter]
verbunden waren. Die meisten von ihnen wurden jedoch wieder
freigelassen und verbannt, während nur neun Mitglieder der
Organisation einschließlich ihres Führers Mehmed Juseinov vor
Gericht gestellt wurden.
Mitte Juni 1986
nahmen Sicherheitsorgane auch die Aktivisten der wenig später
gegründeten „Türkischen Nationalbefreiungsbewegung in Bulgarien“
[Bulgaristanda Türk Milli Kuruluş Hareketi] fest.
Von ihren etwa 200
Mitgliedern wurden 18 Personen vor Gericht gestellt. Sie wurden
der ”unzulässigen Kontakte” mit türkischen diplomatischen
Dienststellen, des Sammelns und der Verbreitung vertraulicher
Informationen, des Vollzugs von Untergrund- und
Anstiftungstätigkeiten, der Gründung oder Leitung türkischer
terroristischer Gruppen usw. beschuldigt. Wegen der Beteiligung
an der Organisierung und ”Unterweisung” solcher Gruppen wurden
in der Folgezeit eine Reihe von Angestellten der türkischen
Botschaft in Sofia sowie der türkischen Generalkonsulate in
Plovdiv und Burgas aus dem Lande gewiesen. Ein Gerichtsverfahren
gegen eine Terroristengruppe fand auch im Jahre 1988 im Bezirk
von Razgrad (Nordost-Bulgarien) statt; Ermittlungen sollten eine
Verbindung zu türkischen diplomatischen Vertretungen (diesmal in
Belgrad und Budapest) fest.
1989, im
fünften Jahr seit Beginn der „Assimilationsbestrebungen“, mußte
Bulgarien in Übereinstimmung mit den Vereinbarungen des Wiener
KSZE-Treffens einige Änderungen in der Gesetzgebung vornehmen
und die Einschränkungen hinsichtlich der privaten Auslandsreisen
beseitigen. Die türkischen Massenmedien kommentierten dies
dahingehend, es sei das eigentliche Ziel Sofias, sich von den
unbequemen Vertretern der Minderheit zu „befreien“, indem sie
sie „legal“ abschieben. Große Verwirrung unter den Muslimen
verursachten die Gerüchte, dass die ab 1. September 1989 in
Kraft tretende neue Gesetzgebung nur vorläufig und selektiv
anzuwenden sei. Die nun folgenden Protestkundgebungen und
Hungerstreiks, in deren Folge es auch zu Brandanschlägen gegen
Wohnungen türkischer Parteiaktivisten kam, waren von türkischen
Untergrundorganisationen vorbereitet worden. Sie forderten
zusammen mit ihren Anführern, die sich im Gefängnis befanden,
die Wiederherstellung der türkischen Namen sowie die freie
Auswanderung unter Berücksichtigung der „Zusammenführung
getrennter Familien“. Die Unruhen, die am Vorabend des größten
bulgarischen Feiertags, der den heiligen Kyrill und Method bzw.
dem slawischen Schrifttum und der Kultur gewidmet ist, begannen,
dauerten über eine Woche lang. In vielen Ortschaften kam es zu
Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und protestierenden
Bürgern. Nach offiziellen Angaben kamen zwischen 20. Und 27. Mai
1989 insgesamt sieben Menschen ums Leben, weitere 28 wurden
verletzt; aller Wahrscheinlichkeit aber sind die Zahlen viel zu
niedrig gehalten.
Am 29.
Mai 1989 verbreitete Živkov über Funk und Fernsehen eine
offizielle Erklärung, in der er die Türkei zur Öffnung ihrer
Grenze für „jeden bulgarischen Muslim“, der auswandern will,
aufforderte. Gleichzeitig appellierte er an die Einheit und
Geschlossenheit der Bevölkerung beim Aufbau der „neuen
Gesellschaft“.
Offensichtlich
hatte sich die Staats- und Parteispitze ähnlich wie in den
fünfziger Jahren dazu entschlossen, Personen, die sich nicht
„umerziehen“ lassen wollten, durch Ausweisung loszuwerden und
den Assimilationsdruck auf die übrigen bulgarischen Türken zu
verstärken. Dem entsprach auch der ZK-Beschluß ”Über die weitere
Vereinheitlichung der bulgarischen sozialistischen Nation”, auf
den sich die Autoren einiger Propagandamaterialien beriefen.
Bereits
unmittelbar nach den ersten Protesten aber wurden Dutzende von
Türken nach Jugoslawien, Ungarn und Österreich deportiert. Es
waren dies meist Mitglieder türkischer Untergrundorganisationen,
Personen, die als Unruhestifter galten oder sich der
Namensänderung widersetzt und ihre Strafen verbüßt hatten. Auf
diese Weise sollen schon in den ersten Wochen etwa 10.000
Menschen vertrieben worden sein.
Im Juni
1989 kam es in den Gebieten mit dichter türkischer Bevölkerung
zu einer „Auswanderungseuphorie“. Schon in den ersten zehn Tagen
stellten die Behörden etwa 150.000 Reisepässe aus, und fast
100.000 Türken verließen das Land. Über 400 Millionen Lewa
wurden von den Sparkassen behoben, um Waren zu kaufen. Viele
Geschäfte wurden geradezu leergekauft und der Produktionszyklus
etlicher Betriebe war gestört, einige von ihnen mußten sogar die
Arbeit einstellen, weil sich die Anzahl der Beschäftigten
plötzlich drastisch reduziert hatte. Besonders betroffen war die
Landwirtschaft, die damals in Ostbulgarien fast die Hälfte ihrer
Arbeitskraft verlor.
Obwohl die
Anführer der „Bewegung für Rechte und Freiheiten“ [Dviženie za
prava i svobodi, DPS] später öfter verkündeten, dass sie die
neue Massenauswanderung initiiert hätten, so entsprach diese
Entwicklung doch auch den Wünschen der kommunistischen
Regierung.
Hatte doch Živkov
bereits am 18. Jänner 1989 auf einem Treffen mit den ersten
Sekretären der Bezirkskomitees der BKP erklärt, es sei am
besten, etwa 100.000–150.000 bulgarische Türken zur Aussiedlung
zu bewegen,
und auf der
Sitzung des Politbüros am 16. Mai beharrte er darauf, den Türken
die Reisepässe noch vor dem für alle Bürger festgesetzten Termin
auszuhändigen.
Schließlich wollte
Živkov am 6. Juni „nicht weniger als 200.000“ Türken aussiedeln,
damit sich Bulgarien „nicht in ein zweites Zypern“ verwandle.
Die übrigen
Politbüromitglieder stimmten seinen Worten natürlich zu. Bis zum
22. August, als die türkische Grenze einseitig geschlossen
wurde, gelang es dann etwa 320.000 bulgarischen Türken, zu
emigrieren. Viele davon konnten sich jedoch in der neuen Heimat
nicht zurecht finden und kehrten nach dem Sturz Živkovs wieder
heim. Bis zum 10. September 1990 kamen auf diese Weise 154.937
bulgarische Türken, also etwa 42% der Auswanderer, ins Land
zurück. In der Türkei blieben 214.902 Emigranten. So wurde die
türkische Minderheit bis zum Ende des Jahres 1990 auf 632.682
Menschen reduziert, was ungefähr 75% ihrer Gesamtanzahl vor
Beginn der „Großen Reise“ im Mai 1989 ausmachte.
Als im März
1985 Michail Gorbačev an die Macht kam, war man in Bulgarien
gerade dabei, die türkischen Namen sogar unter Anwendung von
Gewalt zu ändern. Der neue sowjetische Regierungschef forderte
jedoch gemäß seinen Verständnis von Sozialismus nicht nur
„Glasnost“, sondern auch die Achtung des
Selbstbestimmungsrechtes der Nationen, was der Idee der
„sozialistischen Einheitsnation“ einschließlich ihrer
bulgarischen Variante vollkommen widersprach. Und so beeinflußte
wieder einmal der Wandel in der Sowjetunion die bulgarische
Entwicklung. Todor Živkov musste von der politischen Bühne
abtreten, weil er eine schon vergangene Epoche symbolisierte
und, ähnlich wie zur Zeit Chruščevs, die „Perestrojka“ neue
Menschen brauchte. Diese kamen am 10. November 1989 an die
Macht, nachdem schon 320.000 bulgarische Bürger das Land
verlassen hatten. Die Idee von der „sozialistischen
Einheitsnation“ erwies sich als eine Chimäre. Ebenso scheiterte
der Versuch, in der UdSSR und ihren Satelliten eine „sozial
gerechtete Gesellschaft“ aufzubauen.
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