In der russischen
Geschichte nehmen die östlichen Reitervölker einen besonderen
Platz ein. Noch vor der Gründung von Kiewer Russ spürten die
Länder nördlich des Schwarzen Meeres den Einfuß der Hunnen,
Awaren, Protobulgaren, Chasaren, und nach dem Zusammenbruch des
Chasarischen Chaganats wurden die russischen Fürstentümer vor
dem Druck der neuen nomadischen Gruppen aufgestellt, unter denen
die Stämme der Petschenegen und der Polovci (die Kumanen aus den
europäischen Quellen) eine wichtige Bedeutung hatten. Eben sie
wirkten mit den Russen aus der vormongolischen Periode aktiv
zusammen und schufen Voraussetzungen für das Formieren
denjenigen Zügen in der Weltempfindung, Mentalität und in der „Seelischkeit“,
die wir oft verallgemeinernd als „typisch russische“ bezeichnen.
Der dauerhafte Kontakt „im Frieden und Krieg“ trug zur
Bereicherung der traditionellen russischen Kultur bei, und zwar
sowohl auf eine ethnographische und volkskundliche Ebene, als
auch in Bezug auf die ostslawische russische Sprache, die voll
mit iranischen und türkischen Elemente ist.
Dies alles zeigt sich
bei einer objektiven Betrachtung der russischen Vergangenheit,
als das Gebot der wissenschaftlichen Gewissenhaftigkeit gefolgt
wird, ohne Rücksicht auf irgendwelche ideologische
Voreingenommenheiten und ohne Beachtung der jeweiligen
„politischen Korrektheit“. Doch mit dem Einstieg des russischen
Imperiums und nach seiner Verwandlung in einem der Faktoren in
der europäischen Politik wurde jeder Versuch von einer
kritischen Umwertung der Rolle der türkischen Nomaden und ihres
Beitrages zur Entwicklung des „russischen Geistes“ mit
Missbilligung entgegengenommen. Darum ist es sehr wichtig, den
Weg nachzuspüren, der von der russischen Historiographie bei der
Feststellung der Herkunft, des Wesens und der Bedeutung der
sogenannten Kočevniki [die Reiternomaden] und damit auch
bei der Klärung ihrer Stelle beim Aufbauen der Gestalt des
östlichen Europas, gelaufen wurde.
* * *
Bei der Errichtung der
Grundlagen der neuen imperialen Macht existierten weder die
Petschenegen, noch die Kumanen mehr. Sie haben sich zu einigen
der vielen abgestorbenen Völker verwandelt, deren Namen Spuren
nur in den alten Quellen hinterließen oder lediglich in der
Toponymie bestimmter Regionen aufbewahrt blieben. Und als im 18.
Jahrhundert die ersten konkreten Untersuchungen darüber
unternommen wurden, waren sie schon längs zu einer unklaren
Erinnerung mit einer definitiv negativen Belastung geworden.
Die negative
Einstellung zu ihnen war vor allem dem Umstand zu verdanken,
dass die Nachrichten über Kumanen und Petschenegen hauptsächlich
aus den Kreisen byzantinischer und altrussischer Intellektuellen
herstammten, also von Vertretern derjenigen Länder und Völker,
die oft unter den Nomadeneinfällen litten und bei der
Beschreibung ihres ständigen Feindes nicht unparteiisch sein
konnten. Dies waren Hofschreiber, welche die Nomaden wegen ihrer
unterschiedlichen Lebensweise verachteten, oder aber
Kirchenleute, die die „Barbaren“ auch darum hassten, weil sie
Heiden waren. Für die russischen Chronisten waren die Polovci
Vorläufer der unreinen Völker von Gog und Magog, die einst von
Alexander dem Großen in den Gebirgen geschlossen wurden, um der
zivilisierten Welt nicht zu schaden. Die Annalisten verwendeten
für sie das Epitheton poganye (Heide, heidnische) und
definierten sie als gotteslose Räuber, die sich mit Aas und
Unrat ernährten und eine Reihe andere noch ekelhaftere
Gewohnheiten hatten. Auch für die byzantinischen Schriftsteller
waren sie ein grausames, räuberisches und unzivilisiertes Volk,
das Wolfssitten besaß. Bei einer solchen Quellenbasis ist es
ganz natürlich, dass auch spätere Forscher die Nomaden als
„Wilde“ beschrieben, die Jahrelang im östlichen Teil Europas
„tobten und wüteten“, weswegen sie einer eigenen Geschichte
unwürdig sind.
Im 18. Jahrhundert
schrieb man über Kumanen und Petschenegen vor allem im
Zusammenhang mit der russischen und polnischen Geschichte, da
das Gebiet des Hauptkontakts mit den Nomaden in der heutigen
Ukraine ein Objekt der territorialen Ansprüche der polnischen
und der russischen Krone war. Mit der Zeit ging jedoch die
Initiative in russischen Händen. In der ersten Hälfte des
Jahrhunderts wurde den Anfang der neuen russischen
Historiographie gestellt. Nach der Gründung 1703 von Sankt
Petersburg wurde die kaiserliche Hauptstadt zum Mittelpunkt
eines reichlichen Geistesleben. Mit der Unterstützung des Hofes
und der Regierung nahmen sich eine Reihe deutscher Gelehrten mit
der edlen Aufgabe an, die „weißen Flecken“ in der Geschichte,
der Geographie und der Ethnographie der neuen Großmacht
auszufüllen. Dazu schlossen sich die Bemühungen der
einheimischen wissenschaftlichen Elite, die oft im Streit mit
ihren deutschen Kollegen die Kenntnisse über die alte russische
Vergangenheit erweiterte.
Die Epoche von
Peter des Großen stellte einen Anfang in der systematische
Erforschung der östlichen Kulturen dar. Persönlich nach einer
Zarenanordnung wurden etwa 50 tatarische und armenische
Inschriften aus den Ruinen der Stadt Bolgar an der Wolga
abgeschrieben. Etwa um dieselbe Zeit, zwischen 1720 und 1727,
wurde der deutsche Wissenschaftler Daniel Gottlieb Messerschmidt
auf Dienstreise nach Sibirien geschickt. Ein bisschen früher
beendete im Jahr 1701 Semjon Uljanovič Remesov den ersten
russischen geographischen Atlas mit 23 Landkarten – das
sogenannte „Zeichenbuch von Sibirien“, bei dessen
Vorbereitung er auf die bis dahin unbekannten alttürkischen
Orchondenkmäler stieß. Sie wurden in Europa erst durch die
Beschreibungen des 1709 am Poltava gefangengenommenen
schwedischen Offiziers Philipp Johann von Strahlenberg
bekanntgeworden, der zehn Jahre in Sibirien verbrachte. Sein
Werk ist mit den eingeschlossenen geographischen Beschreibungen
und Landkarten, sowie mit einer der ersten Klassifikationen der
türkischen, finnisch-ugrischen und paläoasiatischen Sprachen
(Tabula Polyglotta) für Jahrzehnte zu einem Haupthandbuch der
entstehenden Altaistik geworden.
Mancherorts berührte Strahlenberg auch die Frage über die
Petshenegen, und in Bezug auf die Kumanen behauptete er, dass
sie Vorfahren der Tataren waren.
Damit ging er dem großen französischen Orientalisten Joseph
Deguignes voraus, der – entgegen seiner Zeitgenossen – die
Polovci eher für Kiptschaken hielt und betonte, dass sie
gemeinsam mit Uzen, Petschenegen und Chasaren zu den Türkvölker
angehörten.
In der ersten
Hälfte des Jahrhunderts sammelten Vassilij Nikitič Tatiščev, der
Sibirienforscher Johann Eberhard Fischer und der Petersburger
imperialen Geschichtsschreiber Fjodor Ivanovič Miller (Gerhard
Friedrich Müller) – der berühmte Herausgeber der „Sammlung
Russischer Geschichte“, Materialien über die Geschichte und
die Sprachen der nichtrussischen Völker im Zarenreich. Viel
größere Bedeutung gewannen aber die Werke eines anderen
deutschen Gelehrten aus den akademischen Kollegium im Petersburg
– der Orientforscher und Professor für das griechische und
römische Altertum Gottlieb (Theophil) Siegfried Bayer,
der als Begründer der normannischen Theorie gilt. Er
unterstützte die These über die Gleichsetzung zwischen Kumanen
und Uzen und meinte, dass sie sich selbst als Usen (Uzen)
bezeichneten und ihnen den Name „Polovci“ samt ihrer Abarten von
den Russen und Polen gegeben wurde.
Damit erschien Bayer als Fortführer einer alten deutschen
Tradition, datierend aus dem 11. Jahrhundert.
Der Gelehrte bemerkte, dass der Fluss Dnjepr von den Tataren „Usi“
und von den Osmanen „Ossi“ oder „Ussi“ benannt wurde,
was wieder an Usen erinnerte. Er äußerte die Vermutung, dass
wegen der Namensähnlichkeit und der gleichen bewohnten Zone die
ihm zeitgenössischen Osseten (Ossetiner) Nachfahren der Usen
oder Uzen darstellen könnten.
In seiner „Russischen Geographie“ berührte Bayer die
Herkunftsfrage auch anderer östlichen Völker –über die Chasaren
behauptete er z. B. definitiv, dass sie höchstwahrscheinlich
türkischer Herkunft waren. Mit all diesem schuf er eine stabile
Grundlage zur Erforschung der Vergangenheit Osteuropas und nicht
zufällig wurden Auszüge aus seiner „Geographie“ als
Kapitel 6 in der Schlözers „Allgemeine nördliche Geschichte“
aufgenommen.
Ein Versuch für
die Klärung der Herkunft, der ethnischen Zugehörigkeit und des
Zusammenhanges zwischen den nicht slawischen Völkern im Russland
unternahm im 18. Jahrhundert auch Vassilij Nikitič Tatiščev. Er
hat nicht nur die Schlussfolgerungen seiner Vorgänger
verallgemeinert, sondern auch neue Hypothesen angeboten, womit
er die Bedeutung seines posthumen Werkes erhöhte.
Im Geiste der Tradition betrachtete Tatiščev die Kumanen
zusammen mit Petschenegen und Torken, indem er sie alle für
Sarmaten hielt. Der Autor nimmt die Hypothese von einer
Verwandtschaft zwischen den ehemaligen Polovci, Sarmaten und
Goten an, betont aber, dass die Kumanen eher vom Osten her kamen
und nicht aus Litauen, wie die alten polnischen Historiker
behaupteten. Gemäß der Einsichten V. N. Tatiščev’s waren die
drei Völker (also Petschenegen, Torken und Polovci)
untereinander verwandt und deswegen beschreibt er sie zusammen,
indem er ihre Beziehung zu den Sarmaten sucht.
„Polovci – die
sind dieselben Petschenegen“ – bemerkt Tatiščev kategorisch und
erläutert, dass dieser Name bei den Russen von den „breiten
Feldern [pole] oder Steppen“ gegeben sein kann, sie aber
sich eigentlich „Komani“ oder „Kumani“ nannten. „Sein Gesetz war
das Heidentum“ – teilt der Autor mit, – doch viele von ihnen
übernahmen von den Wolgabulgaren den Islam und von den Russen
das Christentum. Dafür zeugten die Namen ihrer Fürsten
(arabische und christliche), obwohl auch die Christen ihrerseits
mit der Übernahme des christlichen Gesetzes auch chaldäische,
judäische, griechische oder lateinische Namen erhielten.
In einem anderen Kapitel zählt Tatiščev die unterschiedlichen
Benennungen auf, die den Kumanen gegeben wurden (Polovci
bei den Russen – „vom großen Feld“). Seiner Meinung nach war
dieser Name mit dem griechischen „Nomaden“ und mit
hebräischen „Skythen“ ähnlich.
Deswegen betrachtet er auch einige Angaben in der antiken
Literatur. Das Aufstellen seit den Zeiten Herodots und Ptolemäus
von „Basiläoi“, „Arystei“, „Alanoi“ etc. im Kaukasus, am Wolga
und in der Krim, wo später die Polovci bezeugt wurden,
veranlasst ihm zur Annahme, dass alle diese Völker eigentlich
Sarmaten waren und die griechischen Schriftsteller in der Folge
nur ihren Namen veränderten. Tatiščev rechnet mit dem Umstand
an, dass die biblischen Genealogien nicht genug zuverlässig
sind, um so mehr, als – von den russischen Chronik ausgehend –
die Kumanen (zusammen mit Petschenegen, Torken und Turkmenen) zu
den Türk- bzw. Tatarvölker zugezählt werden sollten, so wie es
vor ihm Strahlenberg in den Polovci tatarische Vorfahren sah,
und man auch für die Turkmenen vermutete, dass sie gleichartig
mit den Tataren sind. Deshalb bevorzugt er definitiv das
Sprachkriterium, doch wegen des Fehlens an zuverlässigen
linguistischen Angaben begnügt er sich nur die Wörter von W.
Rubruck und Plano-Karpini in Erinnerung zu rufen, dass die
Kumanen „von einer Sippe und Sprache“ mit den Ungarn,
Wolgabulgaren und Mordwa seien.
* * *
Ein Jahr nachdem
das Werk von Tatiščev herausgegeben wurde, gelang es dem jungen
ungarischen Gelehrte Daniel Cornides, in Venedig die ersten 22
Seiten eines, bereits im früheren Jahrhundert gesichteten, „kumanischen
Wörterbuchs“ abzuschreiben. Auf Grund der linguistischen Angaben
fand D. Cornides die Kumanen für „Tataren-Kiptschaken“ und ihre
Sprache – für einen „tatarischen Dialekt“. Jahrzehnte lang
blieben jedoch seine Schlussfolgerungen der breiten
wissenschaftlichen Öffentlichkeit unbekannt, weswegen die
Kumanen weiterhin als ein den Magyaren verwandtes Volk gehalten
wurden und die Ehre der Entdeckung des Venedigschen Denkmals dem
großen Orientalisten aus dem Beginn des 19, Jahrhunderts, Julius
von Klaproth, zufiel, der 1828 den ersten Teil dieser Quelle
veröffentlichte. Trotz mancher Fehler warf seine Edition
genügendes Licht auf die Sprache und die ethnische Zugehörigkeit
der späten mittelalterlichen Nomaden auf, und gab einen neuen
Anstoß in ihrer weiteren Erforschung. Und wenn zu Beginn des 19.
Jahrhunderts der große russische Historiker Nikolaj Mihajlovič
Karamsin nur in der Lage war, die Polovci von den übrigen
„Reitervölkern“ zu unterscheiden,
zählten die späteren Forscher sie nun definitiv zu den breiten
„türkisch-tatarischen Gemeinschaft“.
Karamsin gründete
sein Werk auf ein enormes in dem Umfang chronikalisches
Material, wobei er eine Reihe neuer Quellen selbst einführte.
Nach V. Tatiščev erweiterte er die Kenntnisse über die frühe
russische Vergangenheit, indem er mehrere davor unverwendete
Angaben über die Geschichte sowohl der Nomaden selbst, als auch
ihrer Zwischenbeziehungen mit den russischen Fürsten,
analysierte. Auch Karamsin sah in den Steppennomaden gefährliche
für Russland Feinde, womit die Großfürsten unaufhörlich zu
kämpfen hatten – zuerst mit den „Barbaren“ Petschenegen, dann
mit den Torken, und danach mit den “unermüdlichen Übeltätern“,
den „grausamen“ Polovci, deren Erscheinung den Anfang
unendlicher Unheile für den russischen Staat stellte. Nach ihm,
hielten diese Völker die Entwicklung Russlands definitiv auf;
der Frieden mit ihnen war unmöglich (er stellte eigentlich „nur
eine gefährliche Waffenruhe“ dar); wobei der Kampf der
russischen Fürsten untereinander „die Außenfeinde verstärkte“
und die Lage nur zusätzlich verkomplizierte. Der Autor betont
die Rolle Vladimir Monomachs für das Herantreten einer Wende im
Kampf mit der Steppe und äußert vielleicht zum ersten Mal die
Hypothese, dass unter der Benennung Černye Klobuki („die
Schwarzen Mütze“) aus den chronikalischen Angaben die in einer
russischen ethnischen Umgebung im Flussgebiet von Dnjepr
gebliebenen Petschenegen, Torken und Berendei verstanden werden
sollten.
Er war sogar geneigt, in ihnen Vorfahren der künftigen Kasaken
zu sehen:
einer Gedanke, der in der Folge von anderen russischen Forscher
übernommen und weiterentwickelt wurde.
Nach Karamsin gibt
auch Nikolaj Gerassimovič Ustrjalov einige Angaben über die
Kumanen. In seinem Vorlesungskurs an der Universität wird der Kampf der
russischen Fürsten mit den Steppennomaden auch auf Grund von
chronikalischen Zeugnissen betrachtet, es werden Tatsachen über
die Beteiligung von Polovci als Söldnertruppen in den
fürstlichen inneren Auseinandersetzungen aufgezählt, es wird die
Aufmerksamkeit auf die Rolle Vladimir Monomachs zu ihrer
Zerschlagung gerichtet und es wird betont, dass nur die
gemeinsame Steppengefahr die russischen Fürsten auszusöhnen
veranlasste und sie dazu forderte, „ihre Kräfte zu vereinigen,
um Russland mit einem gemeinsamen Schlag von den grausamen
Übeltätern zu befreien“.
Die Werke
Karamsins und Ustrjalovs wurden aus der Position der offiziellen
russischen Historiographie geschrieben. Darin wird de Frage über
die Polovci nur in der Masse betrachtet, inwieweit sie einen
Bezug zum Kampf Russlands mit den Steppenvölkern hat. Deshalb
werfen sowohl das herangezogene Quellenmaterial als auch die von
den Autoren verwendeten deskriptiven Verfahren kein neues Licht
über das Wesen, die Sprache und die ethnische Zugehörigkeit der
Nomaden. In der russischen Geisteswissenschat werden die Polovci
zum Objekt eines verstärkten Interesses erst in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die ersten konkreten
Untersuchungen zu diesem Thema gedruckt wurden. Wahrscheinlich
übte einen gewissen Einfluss darüber die Entwicklung der
Orientalistik (besonders nach der Veröffentlichung des
Sprachmaterials vom Codex Cumanicus) und die schon im
früheren Jahrhundert in Europa begonnene Erforschung der
mittelalterlichen „Reitervölker“, wobei den Bedarf an einer
spezialisierten Literatur zunächst auch mit ausgewählten
Übersetzungsschrifttum ausgefüllt wurde.
Im Russland erhielt aber das Nomadenthema seine vielen klaren
Umrissen nicht unter einer Außeneinwirkung, sondern im Laufe der
allgemeinen Entwicklung bei der Untersuchung der russischen
Vergangenheit.
Mitte des
Jahrhunderts gelang es dem Fürsten M. A. Obolenskij, bei einer
seinen Reisen das handschriftliche „Čet’i minej“ des
Moskauer Metropoliten Makarij († 1563) zu erwerben, der die
Arbeit auf sein Werk noch 1529, während seiner Dienstszeit in
der Stadt von Großen Nowgorod, anfing. Auf die Rückseite des
Blattes 603 der Handschrift entdeckte Obolenskij ein kurzes „polovcisches“
Wörterbuch, beginnend mit den Worten „Auslegung der polovcischen
Sprache: zuerst Polovcisch und dann Russisch“.
Er schickte eine Kopie davon mit einem Brief an M. Pogodin, der
den Auszug in der Zeitschrift „Moskvitjanin“ drucken ließ.
In einer späteren Nummer der Zeitschrift erschien auch eine
Tafel der fraglichen Wörter mit einer Gegenüberstellung zu ihren
tatarischen Entsprechungen, was dem unbekannten Verfasser einen
Grund gab, im Einklang mit dem Text selbst („Polovci, d. h.
Tataren“) zu schließen, dass „die Polovci einen tatarischen
Stamm waren“.
Ein wenig später
analysierte Ivan Dmitrievič Beljaev das Chronikmaterial, um die
Beziehungen Russlands mit den Gebieten nördlich des Schwarzen
Meers in der Zeitalter der petschenegischen und der kumanischen
Überlegenheit in der Steppe zu erörtern.
Der Verfasser kam zu dem Schluss, dass im Unterschied zu den
Petschenegen, die wegen ihrer Zerstreuung nicht imstande waren,
die Beziehungen der Russen zu ihren Besitzen entlang des
Schwarzen Meeres zu stören, weshalb „den Handel mit dem
Griechenland nicht gebrochen wurde“, verletzten jedoch die
gleich nach ihnen erschienenen Polovci das Gleichgewicht in
diesen Territorien. Er unterschied zwei ihrer Haupttypen – die
Dnjepr- und die Don-Polovci. Nach seiner
Auffassung waren die Donpolovci viel zahlreicher und mächtiger,
während sich die Dnjeprpolovci, die nah an den von den
russischen Fürsten unterstützten Torken und Berendei wohnten und
in freundschaftlichen Beziehungen mit den Rostislaviči standen,
als vollmächtige Herren im Gebiet nicht fühlten. Deswegen –
trotz ihrer Einfälle, wobei sie in der Praxis keine der
russischen Städte einnehmen konnten – lief der Handel am Süden
mit Byzanz nach wie vor weiter. Mit der Zeit fing aber der
russische Einfluss auf die Schwarzenmeerküste an, nachzulassen,
und zu Beginn des 13. Jahrhunderts setzten sich dort bereits die
Polovci, und nach ihnen die Mongolen vollständig durch.
Zwei Jahre nach
dem Artikel Beljaevs erschien die Untersuchung von I. Samčevskij
über die Torken, Berendei und die Čenye Klobuki.
Darin analysierte der Autor die chronikalischen Nachrichten, um
eine Antwort auf die folgenden Fragen zu finden: „(1) waren die
Torken, Berendei und Černye Klobuki verschiedene Völker, oder
sie alle stellten ein und dasselbe Volk dar, das
unterschiedliche Benennungen in verschiedenen Zeiten und aus
verschiedenen Gründen erhielt; (2) zur welche Sippe gehörten
diese Völker, woher und wann sie kamen, wo haben sie sich
niedergelassen; (3) welche Bedeutung hatten sie in den
Beziehungen zu Russland; und (4) mit welchen Besonderheiten
zeichneten sich ihre innere Lebensweise ab“? Samčevskij richtete
die Aufmerksamkeit auf den Umstand, dass in den Quellen unter
den Namen Černye Klobuki entweder Berendei, oder die Torken,
oder zusammen Berendei und Torken, oder aber Torken, Berendei
und Petschenegen, beziehungsweise Torken, Kowui, Berendei und
Petschenegen, verstanden wurden.
Dies war bei einer Gegenüberstellung der einzelnen
chronikalischen Listen ersichtlich, woraus der Autor zu dem
Schluss kam, dass der Name Černye Klobuki, ebenso wie die
Benennung Čerkassen, einen gemeinsamen Name der aufgezählten
Völker war, d. h. einen Sippennamen in Bezug auf die Torken und
Berendei. Nach seiner Meinung, war es nicht ausgeschlossen, dass
die Berendei und die Torken „einstämmig“ oder Sippen ein und
desselben Volkes, waren. Die Berendei könnten auch Torken
gewesen sein, die ihre Benennung nach dem Name ihres Anführers
oder aus einem anderen Grund erhielten. Doch wegen des Fehlens
an sichereren Angaben darüber versuchte der Verfasser die
ethnische Zugehörigkeit nur den Torken zu bestimmen.
Er erinnerte die Vermutungen einzelner Gelehrten, die die Torken
für Reste der Ungaren und Bulgaren (so Thunmann) hielten, oder
sie mit den Uzen (so Stritter, Karamsin) in Verbindung brachten,
doch meinte er, dass diese Ansicht nur in der Art einer
Vermutung vorgelegt wurde, die sich durch den „Beweisen
Friedrich Suhms“, dass die Uzen und Polovci ein und dasselbe
waren, widerlegt. Nachdem es keine anderen Angaben gab, sollte
man die Chroniknachricht [von Nestor], dass die Torken
gleichstämmig mit den Turkmenen und Petschenegen waren,
nicht zurückwerfen. Es scheint dies zu bedeuten, dass sich ihr
ursprüngliches Vaterland in Asien befand, woher sie – ähnlich
wie ihre Gleichstämmige – nach Europa gelangten. Samčeskij ist
geneigt, die Torken als den Rest „eines Volkes“ zu betrachten,
das aus Asien in den uralten Zeiten herkam, als es in den
örtlichen und in den fremden Chroniken nicht aufgezeichnet sein
konnte. Später wurde es vielleicht von einem anderen Volk
unterworfen, das aus Asien mit neuen Kräften eindrang, weswegen
es gezwungen war, den Schutz Russlands zu suchen. Indem er zur
Frage über die Bedeutung von Černye Klobuki (d. h. von Torken
und Berendei) in ihrer Beziehungen zu den russischen Fürsten
herantritt, bemerkt der Autor, dass die Torken ursprünglich
Verbündeten oder Söldner von Russland waren (985 beteiligten sie
sich im Feldzug des Fürsten Vladimir gegen die Wolgabulgaren)
und erst im 11. Jahrhundert zu seinem Feind wurden. Der
Verfasser zeichnet in diesen Beziehungen zwei Perioden ab (er
spricht von Beziehungen der „ersten“ und der „zweiten“ Art),
wobei er sich auf die Chronikangaben stützt: (a) bis zu
Unterwerfung der Torken und Berendei seitens der russischen
Fürsten – eine Zeit, die sich vor allem mit kriegerische
Auseinandersetzungen charakterisierte, und (b) nach ihrer
Niederlassung an der russischen Grenzen mit der Steppe als
untergebenen Bündnisstämme.
Er richtet eine besondere Aufmerksamkeit auf die Rolle, die die
Černye Klobuki spielten.
Sie führten nicht nur die Funktion von „ständigen Wachen“ gegen
die neuen östlichen Feinde aus und wurden aktiv in den
fürstlichen inneren Auseinandersetzungen als weit
zuverlässigeren Verbündeten verglichen mit der zum selben Ziel
herangezogenen Polovci benutzt, sondern sie beteiligten sich
außerdem bei der Wahl des Fürsten von Kiew, gleich wie die
übrigen Bewohner, obwohl sie keine Christen waren. Indem er die
Tatsache hervorhebt, dass die Černye Klobuki, die unter eigenen
Anführer standen und jedoch „für ihren Hauptbefehlshaber der
Kiewer Fürst anerkannten“, zu Beginn des 13. Jahrhunderts
vollständig aus den Chroniken verschwanden, vermutet Samčevskij,
dass sie sich mit irgendeinem anderen Volk vereinigten und ihren
alten Name verloren. So führte er die Idee fort, dass eben die
Černye Klobuki, d. h. die Torken und Berendei, später zu „einem
der Elemente des Kasakentums“ geworden sind.
Gleichzeitig mit
dieser Veröffentlichung wurde der historiographische nach seinem
Charakter Artkiel von Arist Aristovič Kunik (Ernst-Eduard Kunik)
über die „torkischen“ Petschenegen und Polovci nach den
magyarischen Quellen herausgegeben.
Ähnlich wie seine Vorläufer zählte der Autor die Kočevniki
im Geiste der Tradition zu den „unhistorischen“ Völkern, die
„niemals eine höhere Stelle in der Weltgeschichte einnehmen
werden“. Doch im Einklang mit Schlözers Ansichten meinte er
allerdings, dass ihre Erforschung notwendig sei, weil so wie die
„Naturwissenschaften auch die niedrigsten unvollkommenen
Organismen in Verbindung mit den vollkommenen einer Beobachtung
und sorgfältiger Untersuchung unterziehen, so auch die
Historiker aus verschiedenen Gründen künftig verpflichtet sind,
mehr eine Aufmerksamkeit dieser niedrigen Sorten der Menschheit
zu widmen, besonders dort, wo über eine Einschätzung der
Geschichte Russlands im Vergleich zu den anderen europäischen
und asiatischen Hauptvölker die Rede ist“.
Eine große
Bedeutung erhielt Mitte des Jahrhunderts das zwei Jahre nach dem
Aufsatz Kuniks veröffentlichte fünfte Band der einst berühmten „Untersuchungen,
Bemerkungen und Vorlesungen zur russischen Geschichte“ von
Mihail Petrovič Pogodin, dessen dritten Kapitel vollständig den
Polovci und den „anderen östlichen Stämmen“, die zusammen mit
ihnen in den russischen Chroniken erwähnt wurden, gewidmet ist.
Indem er eine große Menge von Quellenmaterial verwendete,
versuchte M. Pogodin ausführlich die Polovci zu
charakterisieren, wobei er Auskünfte nicht nur über ihre
Wechselbeziehungen mit den russischen Fürsten, sondern auch über
ihre Herkunft und Sprache, Lebensweise und Gewohnheiten, gab.
Äußerst stark beeindruckt das strukturell-analytischen Verfahren
des russischen Historikers beim Darlegen der angesammelten und
von ihm bearbeiteten Information in einer Weise, die in unserer
Computerepoche an das Schaffen einer „Datenbasis“ ähnelt.
Nachdem er z. B. die Nachricht von Nestor und die Meinung
Karamsins über die Herkunft dieses Volkes zitierte, zählte M.
Pogodin in zwei Spalten die Namen der polovcischen Fürsten auf,
und zwar mit einer genauen Angabe der Jahren, unter denen sie in
den Quellen erwähnt wurden, sowie mit der eventuellen
Variantenaufschreibung in den verschiedenen Chroniklisten (so
etwa Altunopa und Oltunopa, Beluk und
Biljuk, Izaj und Iza).
Diese Namen bewiesen auch die „asiatische Herkunft“ ihrer
Träger. Weiter führte der Autor die von Obolenskij entdeckten „polovcischen
Wörter“ an, die sich letzten Endes als tatarische erwiesen,
woher die Meinung geäußert wurde, dass die Polovci einen
tatarischen Stamm gewesen sind. Er führt Beispiele (wieder mit
Angabe der entsprechenden Jahre) für die Benennung der
polovcischen Fürsten mit ihren Eigen- und Vatersnamen an,
worunter sich auch christliche und slawische Namen befanden. Aus
den spärlichen Nachrichten über ihre Lebensweise folgert Pogodin,
dass die Polovci einen „nomadischen Stamm“ waren, „der sich in
den Steppen von Ort zu Ort mit seinen Zelten, Herden,
Pferdeherden, Kamellen bewegte und von Räuberei und Viehzucht
lebte“. Sie teilten sich in Sippen und Stämmen, welche nach dem
Name ihrer Ahne oder ihres Vorstehers bezeichnet wurden. Es
werden außerdem die Lukomorje Polovci (wahrscheinlich auf
das linke Ufer von Dnjepr nah am Schwarzen Meer) und die
sogenannten Dikie (wilde) Polovci erwähnt.
Jeder der Anführer der einzelnen Sippen (oder Stämmen), die in
den russischen Quellen als knjaze (Fürsten) bezeichnet
wurden, besaß, wie es scheint, seinen eigenen Besitz, eigene
veži. Der Autor bemerkt, dass die Polovci als ganzes
überhaupt zwischen Dnjepr und Wolga siedelten, doch fanden sich
in den Quellen auch Angaben über ihre konkreten Aufenthaltsorte.
Deswegen spürte er den Annalenangaben chronologisch (1109-1198)
nach,
wobei er versuchte, die einzelnen Benennungen zu lokalisieren.
Die Nomaden hatten eigenartige Städte: Šarukan (oder
Osenev), Sugrov, Balin (Galin) und
Češjuev, die nach M. Pogodin vielleicht „Festungen oder
Sammelorte“ zu Schutzen von den russischen Einfällen
darstellten. Sie waren ein kriegerisches Volk, bis zu einem
gewissen Grade mit der Kriegskunst vertraut, teilten sich in
Regimenten und Speeren, verfügten über Bogen und Pfeile,
Speeren, Fahnen und über „lebendiges Feuer“ (1184), d. h. „so
etwas wie Schießpulver“. Als einen „Raubstamm“, der von Beute
lebte, fielen die Polovci auf „Griechen“, auf die Donauländern,
Petschenegen, Berendei und Torken, auf Polen, Bulgaren, aber
meistens auf Russland, ein. Von ihren Überfalle litten vor allem
das Fürstentum von Perejaslavl, dann dies von Kiew und am
seltensten das Černigov’s Fürstentum, was aus der beigefügten
Chronikübersicht (1061-1215) zu entnehmen ist.
Auf dieselbe Weise betrachtet Pogodin auch die Nachrichten über
die zahlenmäßige Stärke ihrer Militärtruppen,
wobei er meint, dass sie mancherorts stark übertrieben wurde und
sich die reale Anzahl der nomadischen Krieger vielleicht
zwischen 500 bis 5000 Menschen bewegte. Nach seiner Auffassung
waren die polovcischen Einfälle „räuberische Angriffe, denen
gewöhnlich die friedlichen Stämmen seitens der benachbarten
wilden, Räuberstämmen unterzogen werden und es ist nicht nötig,
darin irgendwelche besondere Ursachen zu suchen, obwohl es in
einzelnen Fällen auch konkrete Anlasse dazu gab. Die Polovci fielen
in Russland fast unaufhörlich (meistens im Winter) ein, wobei
sie oft die für sie günstigen Umstände nutzten, so etwa den Tod
der Großfürsten (1113, 1125), die inneren Auseinandersetzungen
(1167, 1177) usw. Ihr Erfolg war von der Plötzlichkeit des
Angriffes abhängig. Beim Sieg zerstreuten sie sich im Lande oder
teilten sich in großen Scharen, wobei sie „raubten, schlachteten
und niederbrennten“, „Städte belagerten und einnahmen“, „Leute
in Gefangenschaft wegbrachten“, außerdem den griechischen Handel
über Dnjepr und den Galiziens Fischfang hinderten. Die
russischen Fürsten verfolgten sie oft und nahmen die geraubte
Beute weg. Nicht selten zogen sich die Polovci selbst ohne Kampf
zurück, doch konnten sie schnell zurückkommen. Zum Schutzen vor
ihrer Einfälle wurden Walle errichtet oder ließen die Fürsten
spezielle Militärkräfte die Grenze zu bewachen. Sie
organisierten ihrerseits auch Feldzüge in die Steppe, wobei sie
manchmal auch günstige Umstände benutzten, z. B. die Abwesenheit
der Polovci (1187). Es existierten immerhin auch normale
Zwischenbeziehungen – am Sakov und Kanev wurden oft
Zusammenkünfte (syezdi) zwischen den russischen und
polovcischen Fürsten veranstaltet. Man traf auch
Friedensabkommen mit ihnen, die natürlich vergänglich waren, da
die Polovci immer ihren Eide verrieten, als sie entschieden,
dass dies für sie vorteilhaft sei, doch auch die Russen es
ihrerseits nicht für Sünde hielten, sie zu betrügen, und
manchmal wurden die Friedensanträge sogar mit böser Absicht
gemacht. Doch zwischen den Eliten beider Völker gab es auch
Ehebündnisse, und die russischen Fürsten riefen oft die Polovci
zu Hilfe im Zusammenhang mit dem Kampf untereinander (1078-1210)
oder gegen Außenfeinde.
Indem er die Aufzählung des nach Themen geordneten
faktologischen Materials beschließt, und bis zu Mongoleneinbruch
kommt, der das Ende der Polovcengefahr setzte, bietet M. Pogodin
eine chronologische Übersicht der gekürzten Auszüge aus den
Chronikangaben für die Jahre 1054-1223 an, die konkret das
betrachtete Volk angehen.
Damit überlässt er dem Leser eine Möglichkeit, selbst die ihm
interessierenden Angaben zu suchen und die Richtigkeit der
gemachten Schlussfolgerungen zu überprüfen.
Auf eine ähnliche
Weise betrachtet der Verfasser auch „die übrigen östlichen
Stämmen“ (Torken, Petschenegen, Berendei [Berendiči], Turpei,
Kowui [Koui, Kui], Kaepiči und Černye Klobuki), die in
Verbindung mit den Polovci und ihren Einfällen in Russland
erwähnt wurden. Ein chronologisch geordneter Auszug aus den
Chronikangaben über diese Völker (1054-1207)
dient als eine Verallgemeinerungsbasis bezüglich ihrer Namen und
Herkunft, ihrer Beziehung zu Russland, ihres Siedlungsgebietes,
Dienstes und ihrer Bedeutung. Pogodin vermutet, dass diese
Stämmen untereinander verwandt waren, da sie fast immer zusammen
erwähnt wurden, wobei der Name Černye Klobuki wahrscheinlich
gemeinsam für sie alle war – nur er wurde einzeln und niemals in
Verbindung mit den anderen Namen verwendet.
Die Verwandtschaft der aufgezählten Völker bestätigte sich auch
aus ihren Lebensweise, Handeln, Glauben, Sprache und Verweilen
in ein und denselben Orten
– sie alle waren Nomaden, und wahrscheinlich auch Heiden, wobei
ihre Eigennamen ähnlich mit den Namen der Polovci waren. Indem
sie im Dienst bei den Kiewer Fürsten eintraten, wurden sie am
dem rechten Ufer von Dnjepr als eine Wache gegen die sich links
befindenden Polovci, angesiedelt. Ihre Siedlungen begannen um
den Fluss von Ross (woraus Pogodin vermutet, dass sich den
Ausdruck „Porošani“ auch auf den verbündeten Torkenstämme
bezieht), und ihre Grundstadt war Torčesk.
Außer im Kiewer Fürstentum sind Torken und Turpei auch im
Perejaslav’s Fürstentum (mit Mittelpunkt in der Stadt von Baruč)
erwähnt, und unter 1185 sprechen die Annalen auch von „Černigov’s
Kowui“. Die russischen Fürsten benutzten die Schwarzen
Klobuken sowohl gegen die Polovci, als auch in ihren inneren
Kämpfen. Diese Militärbevölkerung wurde mit der Zeit zu einem
Bestandteil des Kiewer Fürstentums und beteiligte sich aktiv in
seinen Angelegenheiten, besonders bei der Wahl des Fürsten. Sie
spielte die Rolle einer Wache gegen die Polovci, so wie es
später auch die Kasaken in Polen gegen die Tataren benutzt
wurden. Die Schwarzen Klobuken wohnten hinter dem Fluss
von Ross, und die Kasaken erschienen anfangs auf denselben Orten
und in denselben Funktionen – bemerkt der Autor. Nach Pogodin
ist diese Beziehung sehr „spürbar“: der Name Čerkassi,
hinzugefügt in der Voskressenskaja Handschrift zu der Benennung
der Schwarzen Klobuken, stellte die eine Verbindung dar,
und ihr eigener Name war ihrerseits auch mit der Benennung von
Karakalpaken verbunden.
Damit übernahm er die Ideen N. Karamsins, der die Möglichkeit
zuließ, dass sich die Schwarzen Klobuken vor den Tataren
auf die Inseln Dnjeprs versteckten und in der Folge russische
städtische Flüchtlinge aus der militärischen Stand zu ihnen
anschlossen. So konnten die östlichen Stämme unter dem
russischen Einfluss den „christlichen Glauben“ übernehmen, „doch
sie hinterließen ihre Spuren in der alten kasachischen
Physiognomie“.
„Aus diesen zwei Elemente entstanden die Kasaken“ – schließt der
Verfasser, – „die die Geschichte des 15. Jahrhunderts eben dort
begegnet, wo wir nun die Torken und Berendei verlassen – in den
Städten der Čerkassen, nah an der Mündung von Ross“.
In den 70er Jahren
des 19. Jahrhunderts wurde das Werk des russischen Byzantinisten
Vassilij Grigorjevič Vassiljevskij über die Beziehungen
Konstantinopels mit den Petschenegen veröffentlicht.
Darin werden an vielen Stellen Angaben auch über die Kumanen
gegeben, inwieweit sie sich in den chronologischen und
thematischen Rahmen der untersuchten Problematik einschrieben.
Nach Vassiljevskij war die Eroberung Bulgariens durch den Kaiser
Vassilij II. ein taktischer Fehler mit dauerhaften Nachfolgen
für das Kaiserreich gewesen. Sie brachte großen Schaden mit
sich, indem sie das System des byzantinischen Gleichgewichts am
Norden störte. Und wenn die Felder Bulgariens von dem
„byzantinischen Pogrom“ nicht entvölkert wären, gäbe es keine
Notwendigkeit, Versuche zu ihrer erfolglosen Kolonisation durch
wilden Nomaden zu unternehmen. In dem Vakuum, gebildet nach der
Zerschlagung des bulgarischen Zarenreichs drangen zuerst die
Petschenegen und nach ihnen – die Uzen und die Kumanen ein, die
für das Byzanz nicht weniger fürchterliche Feinde als die
Seldschuktürken waren.
Der Autor findet als einen Fehler die Unterscheidung zwischen
Turken [die Türkvölker] und Türken, ohne die nahe
verwandtschaftliche Verbindung der einzelnen ihrer Stämme zu
berücksichtigen. Dabei waren die Petschenegen und die „Uzen oder
Kumanen“ eben solche Türken, wie auch die Seldschuktürken –
meint Vassiljevskij. Das Kumanische Wörterbuch diente als einen
„überzeugenden und anschaulichen Beweis“ für die vollständige
Ähnlichkeit der polovcischen Sprache mit der
„türkisch-tatarischen Mundart“, und die byzantinischen Quellen
teilen direkt mit, dass Petschenegen und Kumanen ein und
dieselbe Sprache redeten. Andererseits, wäre die
„Einstämmigkeit“ der Petschenegen und Seldschuken nicht aus dem
Blick verloren, hätte man die Geschichte den Zusammenhang
zwischen den Petschenegeneinfällen auf dem Balkan und den
seldschukischen Erfolge in Kleinasien schnell begreifen, weil am
Ausgang des 11. Jahrhunderts „die europäische und die asiatische
Invasion“ zueinander bereits eine Hand zu reichen bestreb waren.
So lancierte Vassiljevskij eine These, die in der Epoche der
verstärkten russisch-türkischen Konfrontation vielleicht
glaubwürdig klang, als auch die Turkologie als eine Wissenschaft
noch in ihres „Kinderalters“ stand. Diese Idee, die heute mit
den Visionen Samuel Huntingtons in Einklang steht, war
regelmäßig von den späteren russischen Forschern wiederbelebt.
In neuerer Zeit unterstützte die sowjetische Archäologin
Svetlana Pletnjova auch die These einer gemeinsamen
uzisch-seldschukischen Front gegen Konstantinopel, indem sie z.
B. schrieb, dass „die Gusen des nördlichen Stromes die Absicht
hatten, die südrussischen Steppen zu überqueren und sich im
Byzanz mit den Hautkräften der Seldschuken zu vereinigen“.
Sie spricht zwar von Gusen (d. h. Usen, Uzen)
und Vassiljevskij von den ihnen verwandten Petschenegen, doch
waren nach ihm die Uzen gleichstämmig mit den
Petschenegen und sie stellten „einen der stärksten Stämme
derjenigen Horde, die später in Europa die Benennung
kumanische oder polovcische erhielt“.
Damit schloss sich der Gelehrte zu der in seiner Zeit allgemein
akzeptierten Gleichsetzung zwischen den Uzen und den Kumanen an.
Mitte desselben
Jahrzehnts erschien den Aufsatz des russischen Orientalisten
Vassilij Vassiljevič Grigorjev über die Wechselbeziehungen
zwischen den Nomaden und den sesshaften Staaten,
der mit der verwendeten vergleichenden Forschungsmethode bei der
Suche nach einem eventuellen Gemeinmodell, interessant ist.
Darin werden diachronisch die einzelnen Besonderheiten in der
Geschichte der Reitervölker dargestellt, die auch unter den
Nomaden der Kiewer Periode nachzuspüren sind. „Die gleichen
Bedingungen verursachen gleiche Erscheinungen“ – formuliert der
Autor seine Hauptthese noch am Anfang der Arbeit. Dieses Gesetz
fühlt sich spürbar in den Beziehungen der Nomaden mit den
sesshaften Staaten, die mit ihrer „Gleichförmigkeit bis in die
kleinsten Einzelheiten“ erstaunen. Als wir ihre Geschichte
studieren, stoßen wir ständig auf „eine und dieselben
Bestrebungen, eine und dieselbe Politik, ein und dasselbe
Verfahren“ zur Erreichung ihrer Ziele, unabhängig davon, ob es
sich um die Hyksos in Ägypten, um die Skythen (die Saka), um die
„Geten (jue-ti)“,
um Ussunen und Alanen, um die Hunnen, Bulgaren und Awaren, um
die Türken und die späteren Petschenegen, Uzen und Kiptschaken
(d. h. Polovci, Kumanen) oder um Mongolen, handelt. Grigorjev
zeigt vier charakteristische Besonderheiten, womit sich die
Einfälle der Nomaden und ihre Herrschaft über die sesshaften
Länder abzeichneten: (1) die äußerste Gewandtheit, womit sie die
sesshaften Völker überwunden, trotz der größere Anzahl der
Agrarbevölkerung und das Vorhandensein befestigter Städten; (2)
die barbarische Einstellung zu allem, was von den Besiegten
geschaffen wurde – Wohnungen, Tempel, Schlösse, Grabstätte,
Kunstwerke, deren Vernichtung den Siegern offensichtlich keinen
Nutzen brachte;
(3) die Absage von einer direkten Verwaltung der unterworfenen
Länder – sie wurden in den Händen einheimischer Herrscher
übergelassen, die in Untertanen, d. h. Werkzeuge zum
Herausziehen von Steuern und allerlei anderen Nutzen zu Gunsten
der Sieger, verwandelt wurden; (4) eine Sicherung der
Gehorsamkeit des eroberten Landes mittels Aufstellen darin in
den für das Ziel geeigneten Orten von größeren oder kleineren
Teilen der siegreichen Horde. Als er die Rhythmik der
nomadischen Einfälle in den sesshaften Gebieten nachfolgt, kommt
der Autor zu dem Schluss, dass sie nicht immer willkürlich
waren, sondern auf die Stöße zurückzuführen sind, die von
benachbarten stärkeren Stämmen bekommen wurden. Es sind keine
Fälle bekannt, dass die Nomaden freiwillig aus ihrer Heimat
emigrierten. Ihr Stürzen auf die sesshaften Länder wurde von der
Notwendigkeit verursacht, ein anderes Territorium zu bewältigen,
worauf sie existieren können. Auf diese Weise verwandelten sich
die Verjagten und Verfolgten selbst in Sieger und Verfolger –
zwei gegenseitig bedingten Tatsachen, die in der Geschichte der
Nomadenwelt ständig zu beobachten sind.
Nicht immer konnten aber die „räuberische Söhne der Steppe“ ein
gegebenes Land erobern. Oft bindet sich zwischen den
eindringenden Nomaden und den ihren Druck unterlegten Staat
einen beharrlichen Kampf, der manchmal ganze Jahrhunderte
dauerte und „eine Wiederholung einer und derselben Erscheinungen
darstellte“. Wenn sich die Nomaden nicht stark genug für die
Unterwerfung seines sesshaften Nachbars fühlten, begrenzten sie
sich dann damit, unaufhörlich die Grenz- und sogar die
Innengebiete zu stören, ihre Bevölkerung in Gefangenschaft zu
schleppen, ihr Besitz, ihre Wohnungen und die
Gesellschaftsanlagen zu vernichten. Ihrerseits gingen die
Regierungen der sesshaften Völker auch auf eine ähnliche Weise
heran, indem sie: (1) die Sicherheit auf den Preis der
moralischen Erniedrigung und materieller Opfer loskauften und
sich eine Steuer zu zahlen verpflichteten,
die nur zum Anstand als „Geschenke“ definiert wurde;
(2) mit nomadischen Herrschern Eheverträge schlossen, auch mit
geeigneten Geschenken begleitet; (3) Verteidigungsgrenzwalle
errichteten oder entlang der breiten Grenzflüsse eine Reihe von
Befestigungen schufen, die „Kriegslinie“ benannt wurden; (4) in
einzelnen Fällen selbst Steppenfeldzüge unternahmen, die wegen
der Schwierigkeiten bei der Versorgung der Truppen mit Proviant,
dem Mangel an Wasser, der Müdigkeit von den längen Übergängen
und der ungünstigen Klimabedingungen, oft erfolglos endeten; (5)
Versuche zur „Milderung“ der Gewohnheiten der Nomaden und ihrer
„Einbeziehung zur Zivilisation“ machten – durch Anknüpfung von
Handelsbeziehungen mit ihnen oder durch Einsiedlung unter
bestimmten Voraussetzungen von ihren Teilen auf ihr eigenes
Territorium. Diese Einbeziehung hatte jedoch fatale Konsequenzen
für die Barbaren. Die Nomaden waren Herren im eroberten Land
nur, bis sie ihre „Nationalität“ und ihre „Absonderung“ von der
einheimischen Bevölkerung bewahren konnten. „Die Einbeziehung
zur Kultur der letzten, die Aneignung ihrer Lebensweise,
Gewohnheiten, Sitten, Begriffe, in einem Wort – die Vereinigung
mit den Unterworfenen erwies sich immer verderblich für die
Steppensieger“. Bei einer solchen Vereinigung verloren sie die
Energie, der sie ihr ursprüngliches Übergewicht verdankten, und
aus der besiegten Bevölkerung übernahmen sie, „wie auch allerlei
Nachahmer, überwiegend ihren Mangel“.
Mit der Zeit standen die Sieger in moralischer Hinsicht
niedriger als die Besiegten, weswegen sie vertrieben oder
vernichtet wurden. Die in der Steppe selbst entstandenen
Nomadenreiche brachen entweder von inneren Zwischenkämpfen
zusammen, oder wurden unter den Schlägen anderer nomadischen
Eroberer untergegangen. Nach der Auffassung des Autors, gelang
es nur Russland den Nomaden vollständig zu unterwerfen, und zwar
erst in den Bedingungen der neuen Zeit im 18. Jahrhundert, vor
allem dank der Schaffung drinnen in der Steppe von russischen
Militärkolonien und das Errichten darin von eigenen
Befestigungen.
Die Rolle der
Nomaden in der frühen russischen Geschichte wird auch in den
Arbeiten von Nikolaj Jakovlevič Aristov behandelt. Noch in den
60er Jahren kommt er zu dem Schluss, dass in dem ständigen Druck
der Steppe eine der Hauptursachen für die aufgehaltene
Wirtschaftsentwicklung Russlands gesucht werden müsste. Mit
ihren Einfällen störten die Petschenegen, Torken und Polovci den
Handelswarenaustausch am Dnjepr, Dnestr, Don und Donau – meint
der Gelehrte. Darum mussten die Karawane zwischen dem 10. und
11. Jh. bewaffnet sein, sich in Begleitung von Militärtruppen
bewegen und mit den Petshenegen und den Polovci kämpfen, die
ständig den Russen hinderten, die Handelswege zu benutzen.
Eine Einzeluntersuchung widmete Aristov der historischen
Geographie des sogenannten Polovcischen Feld (pole
poloveckoe). Darin versuchte der Autor, das
Verbreitungsterritorium der kumanischen Stämme in Südrussland zu
skizzieren, indem er sowohl die Information aus den
Chronikangaben, als auch das aufbewahrte toponymische Material
analysierte.
Der Gelehrte definiert die Polovci als die gefährlichsten
nomadischen Feinde Russlands. Gegen sie führten die russischen
Fürsten vor allem einen Verteidigungskrieg, wobei sie zu diesem
Zweck ein Befestigungssystem entlang der Strömung des Flusses
von Ross errichteten. Als sie jedoch ihrerseits imstande waren,
gemeinsame Feldzüge in die Steppe zu organisieren, haben die
Polovci „nie den gemeinsamen Druck von ein paar Fürsten
auszuhalten“.
Ein Interesse aus
dieser Zeit stellt ferner den Aufsatz von P. Burčakov über die
ethnische Geschichte der Kumanen und ihre geographische Lage in
Russland dar.
Entgegen einiger seinen Zeitgenossen glaubte der Autor, dass
Polovci und Kumanen ein und dasselbe Volk waren.
Seine natürliche Grenze mit Russland war entlang des Flusses von
Dnjepr und, um dies zu beweisen, fügte Burčakov ausführliche
Beschreibungen der Feldzüge der russischen Fürsten nach den
Chronikzeugnissen bei. Er versuchte auch, das „polovcische Land“
auf Grund der in den russischen Quellen enthaltenen Angaben zu
lokalisieren, wobei er betonte, dass für die Lösung des
kumanischen Problems auch die Angaben der Kraniologie, der
Archäologie und der Linguistik herangezogen werden müssen. In
Zusammenhang mit der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der
Nomaden meinte Burčakov nicht, dass sich die Polovci mit
Landwirtschaft und Handel beschäftigten. Nach ihm hatten sie
auch kaum Städte, weil „die Russen oft die Befestigungen von
Pfähle, Pferdewagen oder Äste, die in einem Tag gemacht wurden,
als Städte bezeichneten“. Burčakov war aber vielleicht der erste
Gelehrte, der eine Aufmerksamkeit auch an die Ähnlichkeit der
sogenannten polovcischen „Stein-Babas“ im Gebiet von Asow
mit den gleichartigen Steinfiguren in Sibirien widmete, und dies
gab ihm den Grund im Einklang mit einigen Quellenangaben zu
vermuten, dass höchstwahrscheinlich die Kumanen nach Europa aus
dem Gebiet von Sibirien kamen.
Einen besonderen
Platz nimmt in der russischen historischen Literatur des 19.
Jahrhunderts die rechtswissenschaftliche Dissertation von Mihail
Dmitrjevič Zatyrkevič über den Einfluss des Kampfes mit den
Nomaden beim Gestalten des russischen Staates.
Im Unterschied zu seinen Zeitgenossen, die in den Petschenegen
und Kumanen nur ein restriktives, die Entwicklung aufhaltendes
Element sahen, dessen Tätigkeit sich vor allem in Räuberei und
Verwüstungen erschöpfte, lancierte der Autor die Idee, dass
gerade der Kampf zwischen den sesshaften und nomadischen Völkern
die „bewegende Grundlage“ der ganzen alten und mittelalterlichen
Geschichte darstellte. In seinem Lauf formierten sich alle
Staaten, auch der russische Staat. Gemäß Zatyrkevič, hatte das
Erscheinen der Polovci in der Steppe eine entscheidende
Bedeutung für die politische Entwicklung Osteuropas, weil sie –
im Unterschied zu ihrer Vorläufer – keine Eroberungsziele
verfolgten. Um sich ihren Überfallen entgegenzusetzen, wurden
die russischen Fürsten dazu gezwungen, Verteidigungsgrenzanlagen
zu errichten und Städte zu bauen, die sie mit Gefangenen und
Nomaden ansiedelten, welche in Russland eine Zuflucht suchten.
Im Prozess der Erweiterung der russischen Länder auf den Kosten
der Steppe wurden die Nomaden allmählich zu einer überwiegenden
Bevölkerung und damit barbarisierte sich den Staat. So entstand
in der Praxis der erste russische Staat, der fast alle slawische
Städte des östlichen Europas in einem politischen Ganze
vereinte, unter dem Einfluss der östlichen Nomaden, wobei sich
mit der Zeit die Eroberer und Eroberten zu einem neuen Volk
vereinigten. Wie es in der Epoche des (groß)russischen
Nationalismus zu erwarten wäre, verursachte diese Konzeption
negative Reaktionen unter der imperialen wissenschaftlichen
Öffentlichkeit. Dem Autor wurde vorgeworfen, dass er absichtlich
im Verlauf der russischen Geschichte eben diejenigen Züge
suchte, die für die Vergangenheit Westeuropas charakteristisch
waren, dass er auf eine unbegründete Weise die „barbarische
Herkunft“ des russischen Staates zu beweisen versuchte und die
Interpretation des faktologischen Materials seiner
„ausgedachten“ Theorie unterordnete.
* * *
1880
veröffentlichte der Fürst Géza Kuun den vollen Text des in
Venedig aufbewahrten Sammelbandes, dessen ersten Teil von J.
Klaproth ediert wurde, und gab ihm den Name Codex Cumanicus
– eine Bezeichnung, unter welcher das Denkmal schon heute noch
in der wissenschaftlichen Literatur bekannt ist. Die Ausgabe
fand breiten Anklang in der gelehrten Welt und verursachte eine
Reihe von Sekundäruntersuchungen sowohl über die Geschichte, als
auch über die Sprache und die ethnische Zugehörigkeit der
spätmittelalterlichen Nomaden. Mit Anwachsen der Kenntnisse
darüber wurden die Voraussetzungen für die darauffolgende
Verwandlung der Kumanen zu einem selbständigen Objekt des
wissenschaftlichen Interesses geschaffen. Dazu trug bis zu einem
großen Grade Pjotr Vassiljevič Golubovskij bei, der in den 80er
Jahren des 19. Jahrhunderts einige Untersuchungen über die
östlichen Völker, einschließlich eine ganze Monographie über die
Petschenegen, Torken und Polovci widmete, die das erste
zusammenfassende Werk über diese Problematik in der russischen
Geschichtsschreibung ist.
Darin behandelte der Verfasser sechs Hauptthemen, die sich in
den Benennungen der einzelnen Kapitel widerspiegeln, wobei er
nachzuspüren versuchte, inwieweit und auf welche Weise die
Nachbarschaft der Nomaden auf das politische Leben des alten
Russlands einen Einfluss hatte, wie „die Beziehungen zwischen
Türken und Slawen“ waren und wie sich diese Nachbarschaft auf
den Lauf der russischen Geschichte einwirkte?
Um den gestellten
Ziele realisieren zu können, bot Golubovskij zuerst eine
Beschreibung der Steppe vor dem Erscheinen der Petschenegen dar.
Dieses Kapitel, das eine eigenartige Einführung in die
Problematik darstellt, enthält interessante Beobachtungen über
den Charakter der osteuropäischen Tiefebene, deren südlichen
Steppenteil immer ein „Theater von ständigen, dauerhaften
Zusammenstösse der sesshaften Bevölkerung mit den sich einander
ablösenden nomadischen Stämmen“. Der Autor führt Argumente
zugunsten der These auf, dass einst auch im Süden große
Waldmassive existierten, die infolge der unaufhörlichen Bewegung
der Nomadenmassen und des für Russland üblichen Verfahren einer
Landbebauung, die in sich auch später im 14.-15. Jh. das
Abholzen und Niederbrennen der Wälder einschloss, verschwanden.
Er ist der Ansicht, dass dieser Prozess noch beim Ansiedeln der
Slawenstämme anfing, welche, um sich von einem Fluss-System nach
dem anderen zu gelangen und später auch für die Bedürfnisse der
Landwirtschaft, die Waldterrain aufräumten. In der Folge aber,
als das Asien „Massen von Nomaden-Gewalttäter gegen die
sesshafte slawische Bevölkerung“ zu speien anfing, verwandelte
sich der Wald vom Feind zu einem Beschützer, so wie es woanders
die einheimischen Bewohner einen Schütz in den Gebirgen suchten.
Dies führte zu einer langsamen und dauerhaften Zurückziehung der
Slawen nach Norden und Westen. Die besten Helfer und Beschützer
bei ihrem Rückzug waren die Wälder – das natürliche Hindernis
vor dem Nomade, das seine verheerende Einfälle aufhielt.
Ein großer Teil dieses Kapitels widmet Golubovskij der Frage der
Anwesenheit von Slawen an der Schwarzmeerküste in den heutigen
Steppenräumen, deren Ansiedlung dort er ins 1. oder 2. Jh. u. Z.
anzusetzen geneigt ist, obwohl die ersten Nachrichten über sie
erst vom 6. Jh. waren. Er erwähnt beiläufig Goten, Hunnen und
Awaren, verweilt ein bisschen mehr bei den Chasaren und dem
Chasarien selbst, das er als „eine Stütze des Slawentums am
Osten“ definiert,
doch all dies benutzte er – wie es scheint – mehr als einem
Hintergrund, um das Vorhandensein von Slawen am Pontus, Wolga
und Don noch im Altertum zu begründen. Damit beschrieb der Autor
nicht die ethnische Steppengeschichte selbst, wie es sich aus
der Bezeichnung des ersten Kapitels zu erwarten wäre, sondern
brachte er ethnohistorische „Argumente“ für die imperialen
Ansprüche Russlands gegenüber Gebiete und Regionen, die vor
allem mit türkischsprachigen Bevölkerung besiedelt wurden.
Seiner Meinung nach, hat die Bewegung der Nomadenmassen vom 11.
Jh. an „die kulturelle Entwicklung der südrussischen Stämme
aufgehalten, indem sie sie aus den Küstenländern verdrang, und
damit veränderte sie viel das Schicksal des ganzen Russlands
überhaupt“.
Bevor sich mit der
Analyse der Wechselbeziehungen zwischen Russland und die Nomaden
zu befassen, versuchte Golubovskij die Frage der
„Stammesverwandtschaft und der Herkunft von Petschenegen, Torken
und Polovci“ zu lösen. Dieses Kapitel, zum Andenken von N.
Karamsin gewidmet, ist ein des beitragsvollsten in der ganzen
Monographie. Es deckt sich teilweise mit dem 1884
veröffentlichten Artikel des Gelehrten über die Gleichheit der
Uzen und Torken,
der sich aber nur auf einen Aspekt der ganzen Problematik
konzentriert. Der Autor ist der Meinung, dass der Name der
Petschenegen aller Wahrscheinlichkeit nach unter den anderen
Völkern von den russischen Slawen herkam, er schließt aber auch
die Möglichkeit nicht aus, dass sie ihn ihrerseits von den
Ungarn gelernt haben. Er zählt die unterschiedlichen Varianten
der Benennung auf, die offensichtlich zu ein und derselben
Ausgangsform führten. Nach ihm waren sie alle die Einstellung
eines Namens „der – wie es scheint – den Petschenegen von
Fremden gegeben wurde“.
Die darauf in Europa erschienenen Polovci wurden auch mit
allerlei Namen bekannt. Der Angabenvergleich in den
verschiedenen Quellen zeigt, dass sie sich zu ein und demselben
Volk bezogen, das von den Russen als Polovci, von den
byzantinischen und westlichen Chronisten als Komanen oder
Kumanen, und von den muslimischen Schriftsteller als
Kiptschaken, bezeichnet wurde. Auf dieselbe Weise sucht
Golubovskij eine Antwort auf die Frage, ob die Polovci
mit den Uzen gleichgestellt werden müssen (eine Ansicht,
die von Bayer, Thunmann, Suhm, Hunfálvi und einigen anderen
Autoren vertreten wurde), oder ob die Uzen nicht mit den
in der russischen Chroniken erschienenen Torken identisch
sind (wie es Karamsin, Pogodin, Ilovajskij, Brunn u. a.
dachten)? Diese Frage hatte eine große Bedeutung für die
Bestimmung des Charakters der Siedlungen der Schwarzen
Klobuken in Russland und war außerdem auch mit der Frage
nach der Urheimat der Nomaden eng verbunden. Darum verweilt der
Autor ausführlich bei ihr, indem er den Nachrichten in den
verschiedensprachigen Quellen einer vergleichenden Analyse
unterzieht, um am Ende zu beschließen, dass (1) die Kumanen,
Kiptschaken und Polovci ein und dasselbe Volk
waren; (2) die Uzen eigentlich die Torken aus den
russischen Chroniken darstellten; und (3) die europäischen
Schriftsteller in Europa drei einzelne Stämme kannten:
Petschenegen, Torken-Uzen und Polovci.
Sie alle, zusammen mit den Seldschuken- und Osmanentürken,
gehörten zu ein und derselben türkischen Familie, waren Zweige
ein und desselben Stammes, der einst in den Gebieten
Zentralasiens umherwanderte.
Eine Bestätigung dafür findet Golubovskij in den Resten aus der
Sprache der Kumanen, die im sogenannten „Kumanischen
Wörterbuch“, ediert zweimal 1828 und 1880, aufbewahrt wurden. Er
wirft die Zweifel Kuniks zurück, dass das Wörterbuch eher
tatarische oder nogaische Wörter enthielt und die Benennung „kumanisch“
einfach eine geographische Benennung war, weil nach dem Datum
seiner Kompilierung (1303) keine Schlussfolgerungen über die
Zeit des Aufschreibens der türkischen Glossen gemacht werden
müssen. Zweifellos wurden solche Wörterbücher auch früher
ausgearbeitet, so dass der Codex Cumanicus auf Grund von
eingesammelten Materialien angefertigt sein könnte.
Aufschreibungen von türkischen Wörtern wurden einst auch in
Russland gemacht. Dies bestätigt sich von dem vom Fürsten
Obolenskij gefundenen Auszug eines Wörterbuches. Bei seinem
Vergleich mit Codex Cumanicus wurde ersichtlich, dass die
beiden Quellen „Reste“ ein und derselben Sprache (polovcische,
kumanische) enthielten, die dem Tatarischen entfernter stand.
In der Monographie
wird die Hauptaufmerksamkeit auf die Beziehungen der Nomaden mit
Russland konzentriert. Das entsprechende Kapitel, das sich auf
mehr als 110 Seiten ausbreitet, umfasst fast die Hälfte des
ganzen Werkes. Es ist auf die Basis eines sehr reichen
faktographischen Materials geschrieben. Indem seine Ausführung
mit der ersten Erwähnung der Petschenegen in den russischen
Chroniken unter 915 und mit der Lokalisierung ihrer Hauptstämme
anfängt,
zeigt Golubovskij, wie sich diese Beziehungen während der fast
vier Jahrhunderte langen Anwesenheit der Petschenegen, Torken
und Polovci in den südrussischen Steppen, entwickelten. Es
gelingt ihm, die Richtungen der nomadischen Einfälle in Russland
und die Ausgangspunkte der Feldzüge der russischen Fürsten in
die Steppe, nachzuspüren, wobei er bestrebt war, eine
unvoreingenommene Einschätzung über die Verteidigungs- und
Offensivkämpfe der russischen Fürsten darzubieten, und die
Ursachen zu zeigen, die sie hinderten, im Laufe einiger
Generationen mit der Nomadengefahr fertig zu werden. Indem er
den Inhalt der Beziehungen mit den Petschenegen aufzeigt, betont
der Autor ihren vielseitigen Charakter. Die östlichen Nomaden
haben nicht nur räuberische Überfälle in Russland unternommen,
sondern sie sind auch als Söldner in den Truppen der russischen
Fürsten (z. B. beim Feldzug nach Byzanz vom 944) eingenommen,
und von ihnen außerdem als Hilfstruppen in den inneren
Auseinandersetzungen angezogen worden. Nach ihrer Zerschlagung
1019 floh einen Teil der Petschenegen über den Donau und andere
wurden in den südlichen Gebieten Russlands angesiedelt.
Auf dieselbe Weise ließen sich auch die Torken, die nach ihrer
zweiten von den russischen Slawen zugefügten Niederlage am Leben
blieben, im südlichen Russland nieder, und, indem sie bis zu
einem großen Grade ins einheimischen Milieu assimilierten,
bildeten sie zusammen mit den Petschenegen den Kern des „schwarzklobukischen“
Verbandes.
Er spielte eine wesentliche Rolle in der russischen Geschichte.
In dem Flussgebiet von Ross als Grenzwache der russischen
Fürstentümer angesiedelt, hatten die Černye Klobuki eine große
Bedeutung im politischen Leben des Landes. Sie dienten nicht nur
als „leichte, bewegliche Armee“ zur Verfolgung der Polovci,
sondern waren auch aktive Teilnehmer in den inneren
Geschehnissen Russlands. Andererseits, indem sie sich im
slawischen Milieu auflösten, brachten die Schwarzen Klobuken
ein neues türkisches Element darin ein. So beeinflussten sie
die Slawen auch in kultureller Hinsicht, da – gemäß Golubovskijs
– die Nomaden Vertreter einer stärkeren Kultur und standhafteren
Lebensweise waren, als das Slawentum mit seinem urewigen
Bestreben nach Dezentralisierung und autonomer Existenz. Der
Autor teilt der Meinung der meisten Forscher mit, dass die
Polovci die größte Gefahr für Russland in der vormongolischen
Periode darstellten. Ihre Armee, eine gute Militärorganisation
besitzend, war eine gefährliche Macht. Deshalb spiegelten sich
auch die politischen Interessen der russischen Fürsten am
grellsten in ihren Beziehungen zu diesem Volk. Als Beispiel
zeigt er die Politik des Fürsten Oleg von Nowgorod-Sewersk, der
sich von Feldzüge in die Steppe zurückhielt, gute Beziehungen
mit den Nomaden bewahrte und 1107 sogar seinen Sohn Svjatoslav
für die Tochter des Chanen Aepa heiraten ließ, dies aber
hinderte ihm nicht, bei der Verteidigung der Grenzen seine
Kräfte mit den anderen Fürsten zu vereinigen.
Nach Pogodin widmete auch P. Golubovskij eine Aufmerksamkeit den
unterschiedlichen Abhängigkeitsgrad der einzelnen Fürstentümer
von der Steppe. An stärksten Verwüstungen wurde das Fürstentum
von Perejaslawl unterzogen. Wegen seiner geografischen Lage als
Vorposten Russlands und der gedehnten Grenzen am Osten nahm es
die ersten Schläge der Nomadenmassen auf sich auf.
Doch auch andere Fürstentümer, so etwa die von Rjasan und
Sewersk, litten von den Einfällen. Manchmal gingen ihrerseits
die russischen Fürsten zum Angriff über, indem sie Feldzüge in
die Steppe mit dem Zweck einer vorbeugenden Grenzenverteidigung
oder Bewachung der Handelswege, organisierten.
Letzten Endes erwies sich Russland als Sieger in dem
Jahrhunderte langen Kampf – darin zerbrachen alle Nomadenwellen.
Dies war auch seine große Bedeutung für den welthistorischen
Prozess, da Russland selbst „auf seine eigene Schultern“ diesen
Kampf austrug, und so „mit seinem ganzen Brust Europa deckte“.
Natürlich, wirkten
die ständigen Einfälle der Nomaden auf den allgemeinen Zustand
des Landes, indem sie – nach Golubovskij – die unregelmäßige
Entwicklung in den nördlichen und südlichen Gebieten des alten
russischen Staates bedingte. Während sich am Norden „die neuen
Staatsideen festigten“, eine erfolgreiche Kolonisation vor sich
ging, neue Städte gebaut wurden usw., musste die Bevölkerung am
Süden einen ständigen Kampf mit den Nomaden zur Verteidigung der
Grenzen führen, oder vor ihnen eine Zuflucht in den
gefahrloseren nördlichen Gebieten suchen. Am Süden konnte keine
„dauerhafte Ordnung“ auferlegt werden, weil die Nomaden selbst
(teilweise die Polovci), indem sie an der Seite bald des einen
bald des anderen Fürsten eintraten, zu einer „ausgleichenden
Kraft“ zwischen der einzelnen Machtbestrebungen wurden, und
damit für das Erhalten des alten föderativen politischen Aufbau
beitrugen. So fingen die südlichen Gebiete unter dem Einfluss
der nomadischen Nachbarschaft allmählich an, zu Gunst der
nördlichen abzuschwächen.
Indem er die
Beziehungen von Kiewer Russland mit den Petschenegen, Torken und
Polovci betrachtete, berührte Golubovskij auch manche Fragen,
die mit der Geschichte der Nomaden selbst, mit ihrer Lebensweise
und Kultur, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Verhältnissen usw., verbunden waren. Dieses Kapitel des Buches
ist relativ schwächer wegen des Fehlens genügender schriftlicher
Information über die fragliche Problematik. Der Autor versucht
dies zu kompensieren, indem er für diesen Zweck einzelne
archäologische Angaben heranzieht, doch verfügte die Archäologie
zu seiner Zeit noch nicht mit der notwendigen Menge von
Material, die präzisere Schlussfolgerungen erlauben könnte.
Golubovskij ist jedoch einer der ersten Gelehrten, der die Frage
über die Reflexion der Beziehungen zu der Steppe in der
mündlichen Volkskultur stellte. „Sehr viele Einzelheiten aus dem
Kampf mit den Nomaden spiegelten sich in den Bylinen –
unterstreicht er in der Ergänzung zu seinem Werk. – In diesen
alten Heldenliedern gibt es „eine direkte Erwähnung der
polovcischen Horde“, es wird auch „die Erinnerung am Feldzug
Končak’s vom 1184, an den Heiraten mit Polovcinnen, Erinnerung
an Šarukan…“ aufbewahrt.
Damit lenkte er die Aufmerksamkeit auf einem bis dahin
unverwendeten Quellentyp und bewegte vielleicht auf diese Weise
auch M. P. Dimitrov zu seiner Untersuchung über dem „räudigen
Bonjak in den ukrainischen Volkssagen“.
Geschrieben mit der
Heranziehung eines reichlichen faktologischen Materials und
enthaltend eine Reihe von Beiträgen bei der Klärung der so
umstrittenen Problematik, blieb die Monographie Golubovskijs
eine Zeitlang das einzige zusammenfassende Werk über die
Geschichte der Nomaden in Russland, das als eine Grundlage für
weitere konkrete Untersuchungen auf dem Gebiet, diente.
* * *
Auch zu Beginn des
neuen Jahrhunderts nahm die Frage der Beziehungen zwischen
Russland und der Nomadenwelt einen wichtigen Platz bei der
Erforschung der russischen Vergangenheit weiter an. Das
nationale Herangehen an der Geschichte reflektierte jedoch
zweifelsohne auf dieses Thema. Jahrelang (auch während der
sowjetischen Periode) fühlte sich in den Arbeiten auf dem Gebiet
den Einfluss des „tatarischen Komplexes“, der als ob zu einer
der Hauptelemente beim Formieren der russischen nationalen
Identität geworden ist. Der Kampf mit der Steppe ist ein
unverändertes Motiv in der dem Kiewer Ruß gewidmeten Literatur,
das zur Abgrenzung der „Eigenen“ (die Slawen, die sesshaften
Bauern) von der „Fremden“ (die Türken, die Viehzüchter Nomaden)
beiträgt. Dazu legt sich die Vorstellung von der Wachenrolle
Russlands ein, das Europa vor den „asiatischen Horden“
beschützte, und daher – von seiner Mission als Vorposten der
christlichen Zivilisation vor dem islamischen Druck. Diese
Entgegensetzung verstärkte sich von der imperialen Ausbreitung
nach Osten, als die Russen zu Verwalter und „Kulturträger“ in
den einverleibten Ländern wurden, und bei ihrer Modernisierung
auf den Kosten der traditionellen Lokalkulturen halfen. Sie
wurzelte sich so tief in den gesellschaftlichen Vorstellungen
ein, dass die Äußerungen einer positiven Einstellung gegenüber
den Nomaden und das Hervorheben der Einwirkung ihrer Kultur auf
die russischen Slawen auf einen ernsthaften Widerstand stießen.
Noch Karamsin und
nach ihm auch Ustrjalov bestimmten die Steppenvölker als
„unermüdliche/grausame Übeltäter“, die die wirtschaftliche
Entwicklung Russlands aufhielten – eine These, die später in den
Arbeiten von Aristov und den führenden russischen
Historiographen weiterentwickelt wurde. Für Kunik sind die
Nomaden „unhistorische“ und „die niedrigste Sorten der
Menschheit“. Auch Pogodin findet die Polovci für einen „räubererischen“
Nomadenstamm, der von Beute lebte, und Solovjev argumentiert
bereits die These von der „uralten“ Rivalität von Asen und
Europa, vom Kampf zwischen „dem Wald und der Steppe“
(beziehungsweise zwischen den sesshaften landwirtschaftlichen
und den herumziehenden Hirtenvölker, zwischen der städtischen
Kultur und der nomadischen Lebensweise), wobei er die Rolle des
russischen Widerstandes gegen die „Steppe“ für das Schicksal der
europäischen Zivilisation hervorhebt.
Entstanden in der Zeit der russisch-türkischen Kriege im 19.
Jh., bediente diese Theorie ideologisch die Politik der
imperialen Ausdehnung und wurde von den meisten russischen
Historiker (so Ključevskij, Miljukov usw.) übernommen.
Zu dem „Kampf mit der Steppe“ fügten Kostomarov und Gruševskij
auch die Idee des Kampfes zwischen dem staatsbildenden
Grundlagen der altrussischen Geschichte hinzu – nämlich zwischen
der föderativen Grundlage (bezeichnend für das „südrussische“
oder ukrainische Volk, das nicht nur wegen seiner
„unterschiedlicheren Psyche“, sondern auch wegen der Einmischung
der Nomaden nicht imstande war, eine dauerhafte despotische
Ordnung aufzubauen) und der monarchische oder der „Grundlage der
Alleinherrschaft“ (die den „Großrussen“ eigen war),
wobei sie die Schlussfolgerungen Golubovskijs wiederholten, dass
die Kočevniki für das Aufhalten der alten politischen
Ordnung und für das Schwächen des russischen Südens zugunsten
des Nordens beitrugen.
Die traditionellen
Einsichten über die Nomaden bewahrten ihre „Vitalität“ auch nach
der dramatischen sozial-politischen Wende im russischen Dasein.
Gewiss, wurden im Laufe der Umbewertung der „vorrevolutionären“
Historiographie aus der Position der „marxistischen Ideologie“
vielen der Konzeptionen der bis zum Ersten Weltkrieg angesehenen
russischen Historiker einer Kritik unterzogen. Besonders
engagiert damit war M. N. Pokrovskij – der „offizielle
Historiker der Leninschen und Stalinschen Periode der UdSSR. Er
versuchte aber auch, die Vorstellung über die Nomaden als eine
meist „dunkle asiatische Kraft“ einer Neubewertung
unterzuziehen, indem er darauf hinwies, das den Osten für das
Kiewer Russland dasselbe war, wie später Westeuropa für das
Russland von Peter dem Großen wurde. V. Parhomenko bestritt auch
die These der „zivilisatorischen Rolle“ des Kiewer Russlands und
hob hervor, dass die Kultur der Nomaden nicht arm war und sie
auf gar einen Fall „Barbaren“ waren. Doch er (sowie später auch
V. Gordlevskij) wurde von den traditionell eingestellten
Historikern kritisiert. Nach dem „Großen Vaterländischen Krieg“
betrachtete K. V. Kudrjašov erneut Russland als ein „Schild des
europäischen Westens“ und A. I. Popov schrieb über das
„Räuberwesen“ der Nomaden, über die „beutegierige Horden-Staaten
Krim und Kasan“, über das russische „Urgewalt“ und über die
slawischen Scharen, die die Polovci wegfegten und „sowohl die
Macht der Tataren als auch die Kraft der Deutschen“
niederschmetterten.
So wurden manche Ideen
– trotz der bedeutsamen politischen Erschütterungen, die alle
Bereiche des russischen Lebens betrafen – mit der Zeit
wiederbelebt, um sich aufbauend in der Mythologie der eigenen
Identität einzureihen. Und wenn heute die Vorstellung vom
eurasischen Wesen Russlands immer mehr Anhänger im Kontext der
geopolitischen Kräfteaufstellung und der neuen Umgruppierung im
Laufe des Globalisierungsprozesses findet, ist dies auch der
Müdigkeit von den jahrzehntelangen Sozialexperimenten zu
verdanken. Um eine Stütze in dem Taumel der ständigen Änderungen
zu finden, wendet die russische Intelligenz den Blick nach den
erprobten Symbolen der Vergangenheit zu, und sie schließen in
sich sowohl die Idee der gerechten „Väterchen Zar“ und der
Unermesslichkeit der „Mütterchen Russ“, als auch das imperiale
Selbstbewusstsein ein, mit dem gut bewahrten Erinnerung an der
vergangenen Erhabenheit, gestützt auch auf solche Phänomene, wie
die Opposition gegenüber den „wilden“ Kočevniki.
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