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Valery Stojanow
Minderheiten in Bulgarien in der Vergangenheit und Gegenwart

Vorlesung, bestellt vom Institut für Politikwissenschaften der Universität Klagenfurt (Sofia, 1. September 2009)


1. Ein bißchen Geschichte

Bulgarien kehrte auf die politische Karte in einer Zeit zurück, als in Europa schon längst ein Prozeß der Ethnisierung des nationalen Begriffes lieft, zu deren Hauptmerkmale (Gemeinschaft der Sprache oder der religiösen Zugehörigkeit) einige viel leicht zu interpretierende und auch zu manipulierende Merkzeichen für die Bestimmung der Identität, wie z. B. die Kultur im breitesten Sinne des Wortes, die kollektive historische Erfahrung, das eigene Selbstbewußtsein, die vermutliche ethnische Herkunft usw., zugefügt wurden. Gerade deshalb wurde Bulgarien – wie alle andere postosmanische Nachfolgerstaaten – als einen Staat einer ethnisch definierten Titularnation verstanden, auf deren Territorium jedoch größere oder kleinere andersstämmige und andersgläubige Bevölkerungsteile als Relikte der ethnokonfessionellen Buntheit im Region während der imperialen Herrschaft lebten. Und wieder wie in den übrigen (und nicht nur balkanischen) Ländern bestimmte die Vorstellung von der Nation als eine ethnisch bedingte Form der sozialpolitischen und kulturellen Gemeinschaft die Einstellung der regierenden Eliten zu den einzelnen Minderheitengruppen sowie die Spezifika der ihnen gegenüber getriebenen Staatspolitik.

Trotz mancher Nuancen wurde diese Politik in der Kombination zwischen drei möglichen Optionen eingeschränkt: (1) in der „Abgrenzung“ oder Segregation der Minderheit nicht selten mit Hilfe ihrer frei- oder unwilligen Unterstützung; (2) in der „Befreiung“ von der Minderheit meistens durch Auswanderungen, aber auch durch einige weit brutale Formen der "ethnischen Säuberung"; und (3) in der „Einbeziehung“ oder Integration der Minderheit, verstanden aber als eine "Integration in" und nicht als eine "Integration mit" der Titularnation, woher die Einbeziehung auf die Kosten der sich integrierenden Gruppe erfolgte, die sehr oft Elemente ihrer ethnokulturellen Besonderheit verlor.

Diese drei Vorgänge sind in der Geschichte aller südosteuropäischen Staaten zu finden. Die Maßnahmen, die jede davon zur Lösung eines ethnonationalen Problems ergreift, besonders wenn sie mit Unterdrückungen, mit „ethnischer Transformationen“ oder mit Auflösen einer Gemeinschaft in der Titularnation verbunden sind, rufen entsprechende Reaktionen in den Nachbarn hervor, was beim Betrachten der minderheitlichen Problematik in der Region berücksichtigt werden muß.

Etwa nur 70% der Bevölkerung des im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstandenen neuen bulgarischen Staates waren ethnische christliche Bulgaren. Die übrigen 30% umfaßten verschiedene Minderheiten, die Mehrheit davon Muslime, worunter nur die Türken ungefähr 24% der Gesamtbevölkerung ausmachten. Nach einer über ein Jahrhundert lang währenden Entwicklung erreichten die Bulgaren Ende 1992 die 85,67% der Bevölkerung, während die Türken auf 9,42%, die Roma auf 3,69%, die Armenier auf 0,16% usw. zurückwichen. Diese Angaben sind als relativ zu betrachten. Vermutlich war die wirkliche Anzahl der ethnischen Türken zur Zeit des Zensus nicht 800 052, sondern ungefähr 674 000 Menschen, an denen sich die als „Türken“ angegebenen Roma und Bulgarmuslime angeschlossen wurden. Es scheint mir auch die Anzahl der 313 376 Zigeuner als inkorrekt zu sein. Offensichtlich wurden die sich schon in den türkischen und bulgarischen ethnischen Gruppen integrierten Roma davon ausgeschlossen. Noch im Jahre 1989 wurden nach inoffiziellen Angaben des Ministerium des Inneren etwa 577 000 Menschen (6,45% der Gesamtbevölkerung) von ihren Nachbarn als „Zigeuner“ betrachtet und vielleicht sollte man denjenigen Forschern Recht geben, die nach ähnlichen Kriterien Mitte der 90er Jahre von ungefähr 700–800 000 Roma in Bulgarien sprechen. Natürlich erhöhen einige Roma-Vertreter die Anzahl der heutigen Zigeuner in Bulgarien auf über 1 Million Menschen, ähnlich wie man in den nationalistischen Kreisen der Republik Türkei mit 3 Millionen bulgarischen Türken (inklusive die Pomaken und die türkischsprachigen Roma) rechnet. Für manche der anderen traditionellen ethnischen Gruppen im Lande werden auch die vom Zensus abweichenden Zahlenangaben vermutet.

Das Anwachsen der Anzahl der ethnischen Bulgaren gegenüber den anderen Bewohner des Landes verdankt man einer Reihe von Faktoren. Einerseits ist dies auf ihren höheren natürlichen Zuwachs am Ausgang des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückzuführen, sowie auf die Übersiedlung von über einem Viertel Million Bulgaren aus Thrazien und Makedonien nach dem Ersten Weltkrieg (anderer Angaben zufolge sollten annähernd 305 000 Bulgaren während der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts für das Ansiedeln von etwa einem halben Million griechischen Flüchtlingen aus Kleinasien Platz einräumen). Andererseits aber wird die Senkung der Minderheitenanzahl von 1/3 auf etwa 1/7 der Gesamtbevölkerung auch als Ergebnis der ihnen gegenüber getriebenen Politik zu betrachten, die die Auswanderungen einzelner Gruppen unterstützte oder beförderte, beziehungsweise auf die Integration mancher Minderheitenteile in die bulgarischen Titularnation einwirkte.

So wurde z. B. mit der Zeit die griechische Minderheit, die einst in Ostrumelien die dritte Position (5,2% der Gesamtbevölkerung) einnahm, drastisch reduziert. Etwa 20 000 Griechen siedelten noch 1906-1910 aus Bulgarien aus. Neue 50 000 Menschen, wenn nicht auch viel mehr, folgten 1919-1925. Und obwohl der griechische Bürgerkrieg über 4000 Emigranten 1948-1952 nach Bulgarien vertrieb, geben heute nur etwa 8000 bulgarische Bürger das Griechische als ihre Muttersprache an. Auch die Anzahl der Juden, die 1934 auf 48 565 Menschen belief (die Hälfte davon in Sofia), wurde allmählich herabgesetzt. Nach der Gründung des Staates Israel am 15. Mai 1948 wanderten innerhalb eines Jahrs 32 106 Menschen nach ihrer neuen Heimat aus, so daß am Ende 1951 in Bulgarien nur 7676 Juden verblieben. Der Sturz des kommunistischen Regimes 1989 eröffnete neue Möglichkeiten und bis zum Jahr 1992 emigrierten weitere 2400 Menschen nach Israel. Auf diese Weise wurden die Juden, die einst viel zahlreicher als die Armenier waren, Ende 1992 auf 3461 (und im Jahr 2001 auf 1363) Menschen reduziert und mit ihren 0,04% (0,02%) der Gesamtbevölkerung blieben sie weit hinter den Russen, Armenier, den neu erschienenen Arabern, hinter Wallachen, Karakatschanen, Griechen und Tataren. Umgekehrt läßt sich die steigende Anzahl der armenischen Bevölkerung nicht zuletzt auch mit der Annahme im Lande von armenischen Flüchtlingen aus der Türkei (ungefähr 20 000 Menschen im Jahr 1896; über 22 000 Menschen im Jahr 1922) erklären, weswegen trotz der Auswanderung von je 5000 Menschen nach Sowjetarmenien 1935 und 1946, sowie von weiteren 5000 Menschen in die USA 1965-1968, reihte sich die armenische ethnische Gruppe im Jahre 1992 mit ihren 0,16% oder 13 677 Menschen auf den vierten Platz unter den ethnischen Gemeinschaften Bulgariens ein. Gewiß mußte sie 2001 diese Stelle zugunsten der russischen Volksgruppe abtreten, doch mit ihrer 10832 Angehörige (0,14%) steht sie nach wie vor zahlenmäßig vor vielen traditionellen Minderheiten im Lande, wie die der Wallachen, der Griechen, der Rumänen, der Juden usw. Das Reduzieren des Prozentanteils der türkischen Bevölkerung im Lande, unabhängig von ihrem relativ höheren natürlichen Zuwachs, erfolgt auch im Laufe der ständigen Auswanderungen, wobei bis zu Beginn der 80er Jahre des 20. Jhs. in verschiedenen Zeiten über 700 000 Menschen in die Türkei emigrierten. Zu denen schlossen sich 1989 neue 214 902 Menschen, sowie weitere 140 000 Türken, die Bulgarien am Anfang der Transformationsperiode bis zum Jahr 1993 verließen.

Die Integration – manchmal als ein natürlicher Prozeß, der auch von der Minoritäten selbst unterstützt, viel öfter aber unter dem Druck der Umständen und dem Einfluß der Staatspolitik realisiert wird – führte auch zur Erhöhung der Gesamtanzahl der Bulgaren in den offiziellen Statistiken. Eine große Rolle dabei spielten im ersten Falle die gemischten Ehen: etwa 80-90% der bulgarischen Juden nach dem Jahr 1949 z. B. heirateten eine(n) nicht jüdische(n) Partner(in) oder stammten von solchen Mischehen. Damit erklärt sich auch die Tatsache, daß unabhängig von der geringen Anzahl der sich 1992 (und 2001) als Juden angegebenen 3461 (1363) Menschen, heute etwa 10 000 bulgarische Bürger das Recht besitzen, eine israelische Staatsangehörigkeit zu beantragen. Ähnlich ist die Lage auch bei der Romabevölkerung, wovon annähernd 1/6 die Merkmale einer bulgarischen Selbstidentifizierung aufweist. Sich auf die vermutliche Gesamtanzahl der Zigeuner im Lande bezogen, könnte dies zu Spekulationen führen, daß vielleicht über 130 000 Bulgaren (annähernd 2% der Titularnation) im Jahr 1992 eine „zigeunerische Herkunft“ haben sollten.

Beim ethnischen Determinieren der Vorstellungen von der Nation scheint es ganz verständling das Bestreben der Balkaneliten, manipulativ auf das Entstehen eines ihnen recht erscheinenden ethnischen [Selbst]Bewußtseins unter den nach irgendeiner Merkmal verwandten minderheitlichen Gemeinschaften in den benachbarten Ländern, bzw. unter den sich konfessionell und/oder ethnisch unterscheidenden Bevölkerungsgruppen im eigenen Lande, einzuwirken. Dies stellt die einzelnen Balkannationalismen gegeneinander auf und verursacht eine Reaktion zur Bewahrung der „nationalen Interessen“. Vielleicht sollten wir darin die Vorursache für die Bedrückung der Minderheitenrechte in dem Nationalstaat des 20. Jahrhunderts, sowie die zwangsweise erfolgte „Integration“ erkennen, die schließlich auf die „Auflösung“ der Minderheit in der Staatsnation gerichtet wird, besonders falls sich die Mehrheit aus irgendeinem Grund davon bedroht fühlt. Als die Wallachen im Bulgarien z. B. nach dem Jahr 1910 unter dem Einfluß der rumänischen Politik offiziell als „Rumänen“ erkannt wurden, haben die bulgarischen Behörden entsprechende Maßnahmen getroffen, wobei in der Zwischenkriegszeit den Druck gegenüber dieser Bevölkerung verstärkt wurde. Sie äußerten sich in dem Verbot, die Muttersprache öffentlich zu benutzen, die traditionelle wallachische Tracht zu tragen, volkstümliche Bräuche einzuhalten, sowie in Einschränkungen des Gottesdienstes auf Rumänisch, in der Aufstellung von Hindernisse vor der Verbreitung rumänischer Literatur und überhaupt vor den Privatkontakten mit Rumänien, in dem Aufzwingen der Wallachen, ihren Familiennamen zu bulgarisieren und den Kindern bulgarische Namen zu geben, in dem obligatorischen Besuch von Kursen für das Erlernen des Bulgarischen und in anderen Maßnahmen, die nicht selten von solchen Repressalien, wie Mißhandlung, Verhaftung und Aussiedlung, begleitet wurden. Einen halben Jahrhundert später wurde dasselbe System in bezug auf die bulgarischen Türken im Laufe des sogenannten “Prozesses der Wiedergeburt” verwendet.

Nach dem Jahr 1940 wurden auch die Roma einem starken Druck unterzogen. Außer daß es ihnen verboten wurde, die Zentralgebiete der Hauptstadt und der größeren Städte Bulgariens zu besuchen, sowie den öffentlichen Stadtverkehr zu benutzen, wurde 1942 ein Teil der Zigeuner gewaltsam evangelisiert, wobei ihre muslimische Namen in Sofia und in anderen großen Ortschaften mit christlichen Namen ersetzt wurden. Dies fiel zeitlich mit den sogenannten „Maßnahmen der Wiedergeburt“ gegenüber den muslimischen Bulgaren zusammen (also mit der laufenden Namensänderung, mit der Einführung des islamischen Gottesdienstes auf Bulgarisch, mit Abschaffen von Elementen der traditionellen Bekleidung usw.), was ein merkliches Zeugnis für das gezielte Bestreben der Staatsorgane, einige Probleme der Minderheitenfrage mit Hilfe der forcierten Integration zu lösen, darstellt.

Die Versuche, andersstämmige und andersgläubige Gemeinschaften teilweise zu assimilieren, teilweise zu unterdrücken, oder aber sie zur Auswanderung zu veranlassen, schreiben sich in dem gewöhnlichen Streben nach dem Aufbau “mononationaler Staaten” ein. Diese Prozesse verliefen allerdings auch in den übrigen Ländern Südosteuropas (und sogar weit hinaus). Die ethnisch bedingte Vorstellung von der Nation, die ihre Vitalität bis in die Gegenwart aufbewahrt, stimuliert die weiteren Versuche, neue Identitäten im Namen der einen oder der anderen „nationalen Interesse“ zu konstruieren. Darin müssen wir z. B. die Ursachen für die künstliche Erschaffung in Griechenland einer „pomakischen Nation“, sowie für die in Serbien unterstützten Idee von dem Vorhandensein einer Nation von Schopi suchen, die sich auf das 1919 an Serbien abgetretenen westlichen bulgarischen Randgebieten und östlich bis in die Umgebungen von Sofia hin erstreckt. In beiden Fällen handelt es sich allerdings um bulgarische ethnographische Gruppen, Teile wovon auf den eigenen Siedlungsgebieten doch schon längst außerhalb der bulgarischen Staatsgrenzen leben.

Solche Einstellungen zum Wesen der Nation und zur Lösung der Probleme mit einer oder mit anderer Minderheit erscheinen heute als einen Anachronismus, besonders wenn sie im Kontext des globalen Integrationsprozesses gestellt und betrachtet werden. Vielleicht sollte aber die Menschheit auch die Last der ethnonationalen Konflikte ertragen, um neue Formen der friedlichen Koexistenz zu entdecken. Seinen „Beitrag“ zu dieser schmerzhaften Erfahrung leistete auch das moderne Bulgarien.

Als der Staat im Laufbahn der Sowjetunion gestoßen wurde, mußte er sich an der ideologischen Doktrin der UdSSR anpassen. So wurde die Einstellung zu den Minderheiten nach dem Zweiten Weltkrieg wieder mal der Laune der „großen Politik“ unterstellt, dessen Faden nun zu Moskau führte. Dies erklärt die anfänglige Verbesserung der Minderheitenrechte am Ausgang der 40er und in der ersten Hälfte der 50er Jahre, als die muslimischen Namen der Pomaken zurückgegeben wurden, die Emigration von Juden und Armenier erlaubt wurde, aber auch die „Makedonisierung“ der bulgarischen Bevölkerung im Gebiet von Pirin auf Anordnung der Staatsgewalt erfolgte. In dieser Zeit bemühte man sich, das Leben und die Qualifikation der Roma zu verbessern, es wurde auch das Kultur- und Bildungswesen der bulgarischen Türken gefördert, doch begleitet von der Auswanderung 1950-1951 von über 154 000 Menschen in die Republik Türkei. Die allmähliche Sowjetisierung der Gesellschaft mit der Abschaffung des Privateigentums, einer Verstaatlichung der Industrie- und Landwirtschaft, einer Ideologisierung der Politik, einschließlich mit verstärktem antireligiösen Druck, war keine gegen die Minderheiten gerichtete Diskrimination, weil die Maßnahmen in gleicher Masse die ganze bulgarische Nation betrafen. Es sollen auch die Beschlüsse, womit in den 50er Jahre die Landstreicherei und Bettelei unter den Zigeunern verboten wurden, nicht als diskriminierend beurteilen. Gewiß haben sie die Lebensweise und Lebensunterhalt eines Teils der Roma stark betroffen, doch wurde mit der Regelung der Niederlassung, Ausbildung und der Beschäftigung der bulgarischen Roma auch Mittel für das Aufbau neuer Häuser und Schulen zur Verfügung gestellt, sowie Arbeitsplätze für Zigeuner geschaffen, was zur Reduzierung ihrer Arbeitslosigkeit und zur allgemeinen Verbesserung ihrer Lebensbedingungen führte.

Im Laufe der neuen Einstellung zur Minderheitenfrage wurden nach den Jahren 1956-1958 die Zigeuner unter dem Druck gestellt, bulgarisches ethnisches Selbstbewußtsein zu entwickeln. Ähnlich wie die muslimischen Bulgaren und später wie die Türken wurden die Roma bei der Namenswahl auf traditionelle bulgarische Namen eingeschränkt. In dieser Politik einer sich ausbreitenden Assimilierung, trotz ihrer rein bulgarischen Nuancen (da Elemente davon schon in der vorkommunistischen Zeit zurückzuverfolgen sind) findet man Motive, die mit den eingebrachten sowjetischen Ideologemen, z. B. von der „einheitlichen sozialistischen Nation“ oder von der Abschaffung der nationalen Unterschiede bei dem „Übergang zum Kommunismus“, verbunden sind.

Das, was in der Öffentlichkeit als einen „Prozeß der Wiedergeburt“ bezeichnet wurde, stellte eigentlich die letzte Phase einer Jahrzehnte lang durchgeführte Politik zur Bildung einer ethnisch homogenen bulgarischen Nation dar. Dabei wurde natürlich die größte „Aufmerksamkeit“ der muslimischen Gemeinschaft gewidmet, da sie ethnokonfessionell mit der Bevölkerung der Republik Türkei, mit dem Hauptgegner Bulgariens im Rahmen der „bipolaren Welt“, verbunden war, und außerdem das am schwierigsten integrierbare und sich von dem Titularvolk am zahlreichsten abweichende Teil der „bulgarischen sozialistischen Nation“ bildete. Die übrigen, meist „städtischen“, Minderheiten, wie etwa die Juden, die Armenier und die Griechen, waren entweder schon seit langem im gesellschaftlichen und politischen Leben des Landes gut integriert, oder stellten wegen ihrer belanglosen Anzahl keine Gefahr für die „nationale Sicherheit“ dar.

2. Einiges über die muslimischen Minderheiten

Am Ende des 20. Jahrhunderts konnten die bulgarischen Muslime schwerlich als ein einheitliches Ganzes betrachtet werden. Die Ergebnisse der Volkszählung vom Dezember 1992 zeigten, daß sich 13,05% der Staatsbürger zum Islam bekennten. Der überwiegende Teil davon waren orthodoxe Sunniten aus der hanefitischen Richtung (12,05% der ganzen Bevölkerung, oder 92,56% der Muslime im Lande). Sie waren Träger des traditionellen türkischen Islams, der im Osmanischen Reich gepflegt und weiterentwickelt wurde. Eine sehr kleine Anzahl von Gläubigen waren Schiiten (0,98% der ganzen Bevölkerung, oder 7,44% aller Muslime). Das sind die sogenannten Kızılbaši oder Aleviten, Aliane – Anhänger Ali’s, der Schwager Mohammeds, der von seinen Verehrern für Nachfolger des Propheten gehalten wird. Die Schiiten in Bulgarien könnte man als ein Produkt der Tätigkeit nicht orthodoxer islamischen Sekten unter den Einheimischen oder als Ergebnis von Umsiedlungen der Bevölkerungsgruppen, so etwa aus dem kurdischen Anatolien und aus anderen Gebieten des Reiches, besonders im Zusammenhang mit den osmanisch-iranischen Kriegen, betrachtet werden. Sie führen ein relativ geschlossenes Religionsleben und grenzen sich durch einige Einzelheiten in ihrer rituellen Praxis und Tradition von der übrigen muslimischen Bevölkerung ab. In Bulgarien wurden bisher keine Anhänger der Haridschiten registriert, also derjenigen “Puritaner” und Fundamentalisten, die für die arabische Welt charakteristisch sind, welche zur Einhaltung der strengen sittlichen Normen und zur Rückkehr zu den Wurzeln eines „reinen“ Islams auffordern. Doch mit der Öffnung des Landes sowohl nach Westen als auch nach Osten (was die muslimischen Mitbürger anbetrifft) könnte man auch mit Einflüssen des wahhabitischen Islams rechnen.

Nicht nur im konfessionellen Bereich sondern auch nach ihrer ethnischen Herkunft unterscheiden sich die bulgarischen Muslime. Wie man erwartet kann, ist die zahlreichste Gruppe darunter die der türkischen Bevölkerung. Deshalb wird auch die Frage nach der Lage der muslimischen Minderheit im Lande vor allem in Verbindung mit den Rechten und Freiheiten der bulgarischen Türken gestellt. Nach dem Zensus vom Jahr 1992 war ihre Anzahl etwa 800 Tausend Menschen – 800052 (9,42% der Gesamtbevölkerung) nach der ethnischen Zugehörigkeit, oder 813539 (9,58%) nach ihrer Muttersprache (für das Jahr 2001 sanken die entsprechenden Daten ein wenig: 746664 oder 9,42% Türken nach ethnischer Zugehörigkeit und 762516 oder 9,62% Türken nach ihrer Muttersprache). Manche Autoren in Bulgarien bestritten die Gültigkeit dieser Angaben. Sie behaupteten, daß die „eigentlichen“ Türken im Jahr 1992 kaum die Grenze von etwa 500 bis 600 Tausend Menschen überschritten, und der Rest bis 800 Tausend von den sich als „Türken“ angegebenen Roma und Pomaken „ausgefüllt“ wurde.

Sehr nah an die Türken stehen in ethnolinguistischer Hinsicht die bulgarischen Tataren. Noch im 13.-14. Jh. wurden die ersten tatarischen Niederlassungen in Bulgarien vermerkt, u. zw. von Militäreinheiten, die im Dienst der bulgarischen Zaren wechselten. In osmanischer Zeit wurden bereits günstigere Verhältnisse für ständige Ansiedlung von Tatarengruppen in der Dobrudscha geschaffen, die deshalb die Bezeichnung „KleinTatarien“ in Analogie zur byzantinischen „Klein Skythien“ (Skythia Minoris) erhielt. Besonders bedeutend waren die tatarischen Übersiedlungen nach der Eroberung des Krim-Chanates durch Rußland (1783) und um den osmanisch-rußischen Krimkrieg (1853-1856), als etwa 60 000 Krimtataren in der Dobrudscha, im Donauflachland und im Gebiet von Vidin angesiedelt wurden. Ihre Nachkommen, die die eigene Identität aufbewahrten, bildeten nun die gegenwärtige Tatarengruppe in Bulgarien, zu der sich auch die sog. Tatar Šengene (tatarische Zigeuner) im Gebiet von Russe anschließt. Die politische Turzisierung der Tataren begann am Ende der 20er Jahre unter der Einwirkung der Ankaras Propaganda, so daß man im Laufe der Zeit die Tataren inoffiziell als einen Teil der türkischen Minderheit zu betrachten begann. Als „Türken“ emigrierten viele davon auch im Jahr 1989. Dies führte zu einer beträchtlichen Reduzierung ihrer Anzahl, so daß 1992 lediglich 4515 Tataren (0,05% der Gesamtbevölkerung) registriert wurden, obwohl sie nach der eigenen Angaben auf etwa 20000 Menschen belaufen. Die Tataren sind Muslime sunnitischer Prägung; sie selbst empfinden sich aber in religiöser Hinsicht als viel mäßiger als die Türken. Bei ihnen fehlt es an einer Geschlechtsegregation – die tatarischen Frauen verschleierten noch früher ihren Gesichter nicht und außerdem zeigen die Tataren eine weit tolerante Einstellung gegenüber den Aleviten (Schiiten). Sie unterscheiden sich auch durch andere Merkmale von den Türken darunter durch manche Kalenderfeste einschließlich der Newrūz (der erste Frühling), der mit dem persischen (und auch kurdischen!) Neujahr zusammenfällt. Ihre Sprache trat jedoch zum Gunsten des Türkischen zurück, was viele Probleme vor der Wiedergeburt der tatarischen Identität bereitet.

Zahlreicher als die Tataren sind die muslimischen Zigeuner. Einiger türkischen Einschätzungen zufolge bilden sie fast 75% der Romabevölkerung in Bulgarien, nach anderer Angaben sind sie nur etwa 40% aller Roma. Beim Zensus 1992 wurden als Zigeuner 313396 Menschen (3,69%) eingetragen, wovon 310425 Leute (3,65%) das Romani als eigene Muttersprache eingaben. Etwa zehn Jahre später gab es 370908 Roma (4,68%) nach ethnischer Zugehörigkeit und 327882 Roma (4,13%) nach ihrer Muttersprache. Nach inoffiziellen Einschätzungen schwankt aber die Anzahl der Roma zwischen 500 bis 800 Tausend Menschen (vielleicht wurden darin die bereits bulgarisierten und turzisierten Vertreter dieser Gemeinschaft mitgezählt). Heute sind die meisten davon Christen und dies entspricht den Beobachtungen vieler Forscher, daß die Roma gewöhnlich die Religion des Landes, in dem sie leben, als ihre eigene “Glaube” betrachten, und beim Wechsel der Heimat auch ihre Religion wechseln. Diese ihre Spezifika zusammen mit der Politik des bulgarischen Nationalstaates erklären das Sinken der Anzahl von Muslime unter der Roma-Bevölkerung. Man nimmt an, daß die Zigeuner noch im 13.-14. Jh. auf dem Balkan eindrangen. Die überwiegende Anzahl von Zigeuner, die in den frühen osmanischen Steuerbüchern eingetragen wurden, waren Christen mit slawischen Namen, was darauf andeutet, daß sie bereits im Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung standen, deren Namenssystem und Glauben übernahmen. Zusammen mit den osmanischen Türken kamen aber auch Zigeuner, die noch vor ihrem Erscheinen in Europa zum Islam konvertiert wurden. Im Laufe der Zeit trat der größte Teil der Romabevölkerung zur herrschenden Religion über und ab dem 18. Jh. waren die Muslime schon eine Mehrheit. Im Osmanischen Reich fanden die Zigeuner viel günstigere Lebensverhältnisse im Vergleich zu Mittel- und Westeuropa, wo sie einen starken Assimilationsdruck und Verfolgungen ausgesetzt wurden. Dies stimulierte den Anwachs ihrer Anzahl einschließlich durch Einwanderungen in die Balkanländer. Dort pflegten die Roma diejenigen spezifischen Tätigkeiten und Berufe zu praktizieren, die für die vorindustrielle Gesellschaft typisch waren, heute aber nicht mehr gefragt sind, was vielleicht ein zusätzlicher Faktor für ihre sozial-ökonomische Marginalisierung in der Gegenwart darstellt.

Die Romagemeinschaft ist zu heterogen. In Bulgarien bilden die Zigeuner zwei unterschiedliche konfessionelle Gruppen, nämlich 1) muslimische türkisch- oder tatarischsprechende „türkische Zigeuner“, die sog. Horohane Roma und 2) christliche vorwiegend slawophone Zigeuner, die sog. Dasikane Roma. Die ostorthodoxe Roma, die der Sprache nach in bulgarischen, in rumänischen oder wallachischen (z. B. kopanari u. a.) und in einer kleinen Anzahl von serbischen Zigeuner (die sog. drastare oder lovari) eingeteilt werden, unterscheiden sich nach professionellen Merkmalen in zusätzliche Untergruppen weiter. Aber auch die Gruppe der „türkischen“ Zigeuner ist sehr heterogen. Darunter befinden sich: 1. Nachkommen von Migranten aus muslimischen Staaten; 2. Zigeuner, die auf bulgarischem Gebiet zum Islam konvertiert wurden (etwa die sog. Ägypten – die älteste urkundlich bewiesene Romabevölkerung im Lande); 3. Zigeuner, die den Islam im Osmanischen Reich übernahmen und später nach Bulgarien aus benachbarten christlichen Staaten übersiedelten (z. B. die sog. Balamo horohane Roma ‘griechische türkische Zigeuner’) und 4. die sog Mezhari (aus bulg. meždu ‘zwischen’), die sich infolge der gemischten Ehen zwischen horohane und dasikane Roma als eine separate Gemeinschaft herausbildeten. Es gibt ferner Gruppen, formiert (a) nach ihrer Lebensart (z. B. die Kardaraschi im Sinne von ‘Nomaden’, die einen Teil der Ende des 19. Jahrhunderts aus dem heutigen Rumänien nach Europa ausgewanderten Zigeuner darstellen), oder (b) nach der ethnischen Entfernung von der Hauptmasse (so die Gadzhikane Roma, aus dem Wort gadzho - eine Bezeichnung für alle Nicht-Roma, sowie die sog. Dzhorevci in Sofia, die Nachkommen der gemischten Ehen von Bulgaren und Roma sind). Sie alle, wie die längst ansässigen und vorwiegend (doch nicht ausschließlich) muslimischen erlii (aus dem türk. yer "Ort" yerli "örtlich, hiesig") gliedern sich nach dem traditionllen Lebensunterhalt oder Gewerbe in weiteren Untergruppen, so etwa in: kalajdžii "Kesselflicker" kalaj "Zinn" (die zu kardaraschi gehören, zwei Unterteilungen der „ungarischen“ und „bulgarischen“ Roma bilden und zur Gruppe der kalajdžii erlii antagonistisch gestellt sind); mečkari oder ursari "Bärenführer" bulg. mečka, rum. urs "Bär"; majmundžii "Afenführer" majmuna "Affe" u. a. (die zu gadzhikane Roma zu ordnen sind); košničari "Korbmacher" košnica "Korb"; nožari "Messerhersteller" nož "Messer"; čalgadžii "Musiker" türk. çalga "[orientalisch klingende] Musik" usw.

Mit Ausnahme der türkisch- und rumänischsprachigen Zigeuner benutzen alle andere Roma verschiedene Dialekte der neuindischen Zigeunersprache (Romani čub) oder eine Mischung davon mit bulgarischen, türkischen und rumänischen Wörtern. Das ist der Grund warum manche Forscher die Zigeuner nicht als ein Volk betrachten, sondern für sie den Begriff „ethnische Zwischengruppe“ verwenden. Laut einer soziologischen Untersuchung, die im Jahr 1994 unter den Zigeuner durchgeführt wurde, erklärten nur zwei Drittel der Respondenten ihre Zugehörigkeit zur Roma-Gemeinschaft. Davon definierten sich selbst 47% als „bulgarische Zigeuner“, 46% als „türkische Zigeuner“, 5% als „wallachische Zigeuner“ und lediglich 1,6% als „Kardarasche“. Doch das Romani war eine Muttersprache für 85% der „Kardarasche“, 75% der „bulgarischen Zigeuner“, 34% der „türkischen Zigeuner“ und 14% der „wallachischen (oder rumänischen) Zigeuner“, wobei 61% aller „türkischen Zigeuner“ sich untereinander nur auf Türkisch unterhielten. Das ist ein Zeugnis dafür, wie groß den Assimilationsgrad eines großen Teils der Zigeuner mit den Türken ist, welche Beobachtung auch durch die Tatsache verstärkt wird, daß sich unter den 310 Tausend Menschen, die 1992 das Romani als ihre Muttersprache eingaben, 39,7% (d.h. mehr als die eigentlichen horohane Roma) zum Islam bekannten.

Eine Sondergruppe der muslimischen Gemeinschaft sind die Bulgarenmoslems, auch unter den Bezeichnungen Pomaken, Achrjane, Torbesche usw. bekannt. Sie sind eine Gebiergsbevölkerung, die nun in fünf Balkanstaaten (in Bulgarien, Griechenland, Makedonien, Albanien und in der Türkei) lebt. Im Unterschied zu den bosnischen Muslimen, die eine serbischähnliche Sprache besitzen, ist die pomakische Sprache eine bulgarische Mundart, die in sich zahlreiche archaische Sprachformen bewahrt, welche mit denen, die aus den schriftlichen Denkmälern der mittelalterlichen bulgarischen Literatur bekannt sind, verglichen werden können. Es besteht darin eine spätere Schicht von Turzismen (einschließlich Zahlwörter und Verwandtschaftsnamen), Arabismen (religiöse Terminologie) und Gräzismen, die aber auch für andere bulgarische Dialekte typisch sind also alte griechische Lehnwörter im Bulgarischen darstellen oder aber als ein Produkt der Kontakte mit der griechischsprachigen Umgebung zu betrachten sind. Nach inoffiziellen Angaben ist die Anzahl der Pomaken 500 000 Menschen, wovon zwischen 80-120 Tausend in Albanien, fast 40 Tausend in Griechenland und Makedonien und etwa 150-200 Tausend in Bulgarien leben. In der Türkei selbst wurden 1965 etwa 20 000 Menschen mit einer pomakischen Sprache (Pomakça) registriert, die hauptsächlich Auswanderer aus Bulgarien darstellten, wovon die Hälfte das Gebiet von Edirne bewohnten.

Die Verteilung dieser Bevölkerung rief unterschiedliche Erklärungen über ihre ethnische Herkunft in der Geschichtsschreibung der Balkannationen hervor. In Bulgarien sind die Pomaken als Bulgaren (Bulgarmohammedaner) betrachtet, die den Islam während der Osmanenzeit übernahmen, wofür die Gemeinschaft von Sprache und traditioneller Volkskultur, sowie die aus osmanischen Quellen gewonnenen Informationen, spricht. In der türkischen Literatur werden sie als autochthone Rhodopen- oder Gebirgstürken qualifiziert, welche Nachfolger der Kumanen oder Nachfahren anderer Türkstämme waren, die die Rhodopen-Gebierge noch vor dem Erscheinen der Osmanen besiedelten, wo sie bulgarisiert wurden und ihre Muttersprache vergaßen. Manchen Schriften zufolge wird ihre Gesamtanzahl auf 6 Millionen „Rhodopentürken“ bestimmt, was den höchsten Vermutungen der zahlenmäßigen Stärke der Muslime in Bulgarien übersteigt. In Griechenland dagegen sind die Pomaken als slawophone islamisierte Hellenen oder als Nachfahren der alten Thrazier und damit als griechische Verwandten gehalten worden, welche von der “bulgarischen Invasion” im 7.-12. Jh. in die Rhodopen hinausgestossen wurden und in der Folgezeit slawisiert, mit dem Kommen der Osmanen auch islamisiert, wurden. Dort wurden hämatologische Untersuchungen durchgeführt, um zu „beweisen“, daß in rassischer Hinsicht die Pomaken eine besondere Volksgruppe von Thrazier Achrjane darstellen, also von uralten Bewohnern des breiten hellenistischen Raums, die mit den übrigen Balkanvölkern, außerhalb mit den Griechen, nichts gemeinsames haben. Und wenn man die Pomaken früher als einen Teil der muslimischen Bevölkerung zusammen mit den Türken in Ost-Thrazien behandelte, erkennt man nun eine neue Tendenz, sie als ein separates Volk abzusondern. Mitte der 90-er Jahre erschienen eine pomakische Grammatik mit zwei Wörterbüchern (Pomakisch-Griechisches und Griechisch-Pomakisches), was von der Öffentlichkeit als ein patriotisches Werk zur Verteidigung der nationalen Interessen begrüßt wurde. In Albanien zählt man die Pomaken zur makedonischen Minderheit; in der Makedonien selbst werden sie als Teil der slawophonen Mehrheit akzeptiert, obwohl sie sich an die muslimische Minderheit nebst den Albanern anschließen. Es gibt keine Indizien auf irgendwelche besondere makedonische Theorien über die Herkunft dieser Bevölkerung außerhalb der allgemeinen Vorstellungen von der Genesis des makedonischen Volkes. Doch eben die scharfe Konfrontation darüber zwang vielleicht manche Osteuropaforscher, die traditionell gewordene Definition der Pomaken als „Muslime bulgarischer Zunge“ durch eine mildere „Muslime südostslawischer Zunge“ zu ersetzen.

Auf diese Weise versucht jedes Staatsvolk auf dem Balkan die Pomaken an sich zu ziehen, woraus sich ein großes Streitproblem entwickeln könnte. Deswegen fühlen sich die Bulgarenmoslems selbst unsicher und sind bei der Suche nach ihrer Identität fremden Einflüssen zugänglich. In den letzten Jahren erschien z. B. unter arabischer Suggestion eine neue These, die alle bisherige Erklärungen über die Herkunft dieser Bevölkerung verwarf. Danach seien die Pomaken entweder Nachfahren mittelalterlichen arabischen Kriegsgefangenen, die zur byzantinischen Zeit angesiedelt wurden, oder alte Einwanderer aus Pakistan, oder aber Nachkommen von Gesandten (Peygambere) des Propheten gewesen, die nach seinem Befehle noch vor der Niederlassung der Slawen und Türken kamen, um auf dem Balkan die Worte Allahs zu verbreiten. Damit erscheint ein neuer Spieler in dieser Region, der sich in der kontroversen Herkunftsfrage einmischt und die Identitätsspaltung vorantreibt. Diese Mythologeme hält keine wissenschaftliche Kritik stand. Doch sie verdient eine Aufmerksamkeit, weil sie die Islamgrenzen in Europa, die angeblich vom Propheten selbst vorausbestimmt wurden, ‘zeichnet’. Und im Kontext der Erwägungen S. Huntingtons über die Frontlinien des sog. ‘Clash of Civilizations’, auf dem Hintergrund der auch konfessionell determinierten Konflikte im früheren Jugoslawien, im Kaukasus und in Mittelasien, sowie in Anbetracht der anwachsenden Anzahl der sich auch in Bulgarien niederlassenen Araber (1992 gab es hier noch 5438 davon, heute sind sie etwa über 20000 Menschen), sollen solche Entwicklungen mit großer Wachsamkeit nachverfolgt werden.

3. Die Minderheiten Bulgariens nach der Wende

Wenn es etwas nennenswertes bei den mühsamen Transformationsprozess in Bulgarien gibt, so ist das auf dem Gebiet der Minderheitenrechte und -freiheiten zu suchen. Diese Feststellung mag provokativ sein und skeptisch in bezug auf die allgemeine Entwicklung klingen. Doch weder die wirtschaftliche Lage, noch der miserablen Zustand in der Wissenschaft und Bildung, in der Kultur und vor allem im sozialen Bereich geben uns einen Grund zum Optimismus. Und wenn die Experten darin einig sind, daß Bulgarien sogar beim ständigen Anstieg des Bruttosozialproduktes seinen Ausgangspunkt vom Jahr 1989 nach Jahrzehnten wieder erreichen könnte, bedeutet dies, die Art und Weise der Transformation auch als Genozid gegenüber breiteren Schichten der Nation zu bezeichnen.

Einen Beweis dafür sieht man in den stetigen negativen Bevölkerungszuwachs, in der erhöhten Sterblichkeit, in dem verschlechterten Gesundheitswesen, in der wirtschaftlichen Misere und in den anwachsenden Auswanderungsdrang. Etwa eine Million Menschen verlor Bulgarien seit dem Ende der 80er Jahre. Mit über einer halben Million Bürger (mehr als 6%) reduzierte sich seine Bevölkerung zwischen den beiden letzten Zensusjahren. Dabei ist die Anzahl der verlorenen ethnischen Bulgaren und Christen weit höher (-2,1% bzw. -2,8%). Auch die Türken verminderten sich, obwohl ihren Anteil an die Gesamtbevölkerung mit +0,05% (von 9,4% auf 9,45%) leicht angestieg. Bei den Zigeunern ist dagegen einen Zuwachs zu vermerken, und zwar von 3,7% im Jahr 1992 auf 4,67% im Jahr 2001, d. h. ihren Anzahl ist mit +0,97% angestiegen. Auch die anderen ethnischen Gruppen haben nun höhere Werte: ihre Stärke ist 1,1% auf 1,97% oder mit +0,87% angestiegen. Das bedeutet, daß die ethnischen Minderheiten im Lande innerhalb eines Jahrzehnts an Anzahl ihrer Angehörigen im Vergleich zum Staatsvolk leicht zugenommen haben. Bildeten im Jahr 1992 die Bulgaren 85,7% der Gesamtbevölkerung, sind sie nun auf 83,9% reduziert worden. Waren die übrigen Ethnien mit 14,3% zu summieren, erhöhte sich 2001 ihren Anteil auf 16,1% der Gesamtbevölkerung. Wie immer diese Entwicklung zu interpretieren sein mag, einst ist es schon klar, nämlich: (1) daß die Bulgaren viel schwieriger die Lasten der Transformation empfinden und (2) daß nun die ethnischen Minderheiten in einer weit besseren Lage als zuvor gestellt worden sind.

Was hat sich eigentlich nach dem Umbruch 1989 geändert? (1) Die langjährigen Bemühungen, eine ethnisch homogene bulgarische Einheitsnation zu schaffen, wurden aufgegeben. (2) Es begann eine unweigerliche Wiederherstellung der entzogenen oder eingeschränkten minderheitlichen Rechte und Freiheiten, besonders in bezug auf die muslimische Bevölkerung. Somit entspannte sich die Lage im ethnokulturellen Bereich, was zur Aufbewahrung des Friedens führte. (3) Bulgarien hat sich verpflichtet, die internationalen Vereinbarungen im Bereich der Menschenrechte und des Minderheitenschutzes zu beachten. Dies war nicht immer leicht und stoß auf heftigen Widerstand in bestimmten gesellschaftlichen Kreisen. Doch die verantwortlichen Instanzen fanden einen Ausweg, indem sie mit formellen Begründungen die Streitfragen lösten. (4) Dies alles begünstigte die Tätigkeit zahlreicher wiederhergestellten oder nach dem Jahr 1990 entstandenen gesellschaftlichen und kulturellen Minderheitenvereine, sowie die Arbeit zahlreicher NGO’s und bulgarischen Filialen internationaler Rechtsschutzorganisationen, die sich mit der Lage der Minderheiten befaßten.

Auf diese Weise fand in Bulgarien eine spürbare Renaissance der ethnischen und konfessionellen Minderheiten statt, die sich nun gemäß der im Rahmen der EU akzeptierten rechtlichen Grundlagen gestaltete. Davon profitierten nicht nur einzelne Teilgruppen sondern die ganze Nation, weil damit das Konfliktpotential der Minderheiten als einen möglichen Störungsfaktor gemildert wurde. Sie alle haben nun ihre eigene kulturelle Vereine, die zur Stärkung und Entwicklung der ethnischen Identität beitragen, wobei die Türken zum ersten Mal auch über eine stets im Parlament vertretenen politischen Partei verfügen. Die Muttersprache wird in der Schule wieder gelernt und bei der Ausübung der Religion gibt es nun keine Einschränkungen. Das Miteinander von Muslimen und Christen in den gemischten Gebieten ist nicht strapaziert, weil sich die schon bewahrte Form des Zusammenlebens (das sog. Komschuluk "[gute] Nachbarschaft" türk. komşu "Nachbar") wieder belebte und sich beiden Gruppen bei dem Überwinden der Schwierigkeiten des Alltages, sogar beim Bau von Moscheen und Kirchen gegenseitig helfen. In ihrer Mehrheit tragen nun die beiden Volksgruppen auf eine ähnliche Weise die Last des Überganges; beide sind gleichermaßen von der wirtschaftlichen Misere getroffen, nur daß die Türken die Präferenzen des sog. „Mutterlandes“ nutzen, um sich auf die Oberfläche zu halten, wogegen für die Bulgaren keine solche Möglichkeiten bestehen. Auch die Eliten beider Gruppen sind nach Mentalität und Lebensweise nicht voneinander zu trennen, weswegen es für die Türken keine Probleme gibt, bei der weiteren Entwicklung des Landes mitzuwirken, ohne die eigene Identität aufzugeben.

Mit der Rückkehr zur Demokratie und der Öffnung Bulgariens entstanden neue Möglichkeiten vor den Vertretern der Minderheiten. Nicht nur Türken können jetzt unbehindert in die Türkei reisen und nutzen diese Angelegenheit, um sich wirtschaftlich zu helfen. Auch die Juden stützen sich auf den Beistand ihrer international verknüpften Gemeinschaften oder machen von dem Recht auf eine israelische Staatsbürgerschaft Gebrauch. Viele Rentner mit einer jüdischen Herkunft weilen monatelang im „gelobten Land“, wo sie sich auf eine bessere soziale und medizinische Versorgung erfreuen, und kehren im Sommer nach Bulgarien zurück, um ihre Angehörige zu treffen. Die Armenier nutzen die Kontakte mit ihrer Diaspora in den Vereinigten Staaten und in Europa, um den Schwierigkeiten des Überganges ein bißchen leichter zu begegnen. Die Muslime zogen ihrerseits die Aufmerksamkeit der islamischen Welt und ihre materielle Unterstützung auf sich an und mit den Zigeunern beschäftigen sich zahlreiche NGO, die sich mit Rat und Tat, in Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen, durch verschiedene Projekte für Verbesserung der Lage bemühen. So begann man zu Beginn des neuen Jahrtausends in einigen Stadtvierteln von Sofia und in anderen Großstädten für die dortigen Roma Mehrfamilienhäuser zu bauen – Projekte, die zum größten Teil mit Mitteln aus der EU finanziert wurden. In solchen Fällen wurden dabei Arbeitskräfte der Roma herangezogen, die vorher die notwendige Qualifikation im Wohnungsbau erhielten, um sich damit später auf dem Arbeitsmarkt bewerben zu können. Aber auch eine der Änderungen des Bildungsgesetzes, wonach ab 2002 eine obligatorische Vorschulvorbereitung eingeführt wurde, um man den Kindern das Lesen und Schreiben (bzw. das Bulgarischsprechen) vor dem Beginn der ersten Klasse beizubringen, kommt vor allem den türkischen und den Roma-Kindern zugute. So können sie mit einem viel besseren Start in der Schule rechnen sowie weit größere Integrations- und Bildungschancen bekommen. In einem Experiment unter muslimischen Roma von zwei Stadtvierteln in Plovdiv wurden auf diese Weise etwa 60% ihrer Kinder für die Schule vorbereitet. Die frei verteilten Frühstücke, Bekleidung, Lehrmittel und andere Güter, die kostenlose Teilnahme im Unterricht, das für die Roma-Kinder speziell konzipierte Programm, nicht zuletzt aber auch das Vorhandensein von Lehrerinen aus der Minderheit, zog die Aufmerksamkeit der sozial schwachen und stets arbeitslosen Eltern, die darin eine Möglichkeit sahen, ihre Kids von dem „Einfluß der Straße“ fernzuhalten.

Gerade dieses Beispiel zeigt deutlich, wo allerdings die meisten Schwierigkeiten und Probleme im Bereich der Minderheiten liegen. Es sind nicht die Türken und auch nicht die Muslime, die sich als ein Hemmnis für die moderne Entwicklung erweisen. Gewiß könnten sie bei manchen Konstellationen zu einem mächtigen Moderator der Zukunft Bulgariens werden. Bislang sind aber keine ausgeprägte nationalistische oder islamistische Tendenzen unter ihnen zu vermerken, die uns einen ernsthaften Grund zu Sorge bereiten können. Ob es auch weiter so bleibt, hängt gewiß von der allgemeinen Regionalentwicklung und der weltpolitischen Situation in den nächsten Jahrzehnten ab.

Anders ist die Lage mit der Romabevölkerung. Die Zigeuner haben sich in der Welt zerstreut und bildeten verschiedene Gemeinden, die sich voneinander auch in bezug auf den Glauben unterscheiden. Und obwohl sie sich an der Kultur und Sprache des jeweiligen „Gastlandes“ anpaßten, blieben sie stets am Rande der Gesellschaft, als eine exotische Gruppe, die überall und nicht nur in Bulgarien „traditional-mobil“ blieb, ein äußerst niedriges Bildungsniveau besaß und „fast ausschließlich in Arbeitsverhältnissen mit extrem niedrigem Sozialprestige“ (so St. Troebst) stand. So sind die Roma weiterhin als die Parias der modernen Welt geblieben u. zw. nicht zuletzt auch deshalb, weil man sich um ihre Entwicklung wenig kümmerte. Das Versuch im kommunistischen Bulgarien sie per Gesetz seßhaft zu machen wurde in den 90er Jahren voreilig als eine Diskriminierung kritisiert. Doch mit Regelung der Niederlassung, Ausbildung und Beschäftigung der Zigeuner wurden auch Mittel für das Aufbau von Häusern und Schulen, sowie für das Schaffen von Arbeitsplätze zur Verfügung gestellt, was zu einer allgemeinen Verbesserung der sozialen Lage und des Bildungsniveaus der Roma führte. Und obwohl Mitte der 60er Jahre nur etwa 40,5% davon als erwerbstätig gemeldet wurden, verdienten sie viel leichter und auf eine ehrliche Weise ihren Lebensunterhalt. Waren 1956 immer noch 55,9% der Roma Analphabeten, sank bis 1992 der Anteil derjenigen, die des Lesens und Schreibens unkundig waren, auf 8,7%, während der überwiegenden Mehrheit von 82,9% schon wenigstens eine Unterstufe- oder Grundschulbildung besaß. Nach der Liberalisierung der ökonomischen Verhältnisse und mit dem Übergang zu einer dezentralisierten Marktwirtschaft fanden sich aber in dem Staat immer weniger Mittel für gezielte Unterstützung der Romabevölkerung. Das Schließen staatlicher Betriebe und nicht rentabler Produktionen, in denen die Zigeuner engagiert wurden, sowie das Auflösen der LPG ließ Tausende Roma ohne feste Beschäftigung, die dann auf die spärliche Sozialhilfe angewiesen wurden. Und da sie für den Unterhalt der kinderreichen Zigeunerfamilien nicht reichte, blieb den Roma nur den Ausweg, sich in der „grauen Wirtschaft“ einzureihen und sich straffällig zu machen. Die angestiegene Kriminalität unter ihnen ist daher nicht mit irgendeiner speziell angeborenen Mißachtung des Gesetzes zu erklären. Sie ist schließlich in der zu lange andauernden „Umwandlung“ zu suchen, in der sich für die Zigeuner nichts tat und die Zerstörung des alten Systems mit der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Institutionen verbunden war, die Demokratie auch durch Recht und Ordnung zu festigen. Kein Wunder dann, daß die Marginalisierung der Romabevölkerung weiter vorangetrieben wurde. In den fast 20 Jahren seit dem Umbruch stieg die Anzahl der Angehörige dieser Minderheit an, die sich daran gewöhnten, durch Diebstahl, Bettelei, Prostitution und Drogenhandel zu ernähren. In der Tat ist die Kriminalität unter den Roma 17 mal größer als bei den übrigen Volksgruppen geworden. Es wächst also eine Generation, die schon keinen Halt vor schweren Delikten macht und auch ein äußerst niedriges Bildungsniveau besitzt. Und wenn man die große Geburtenrate der Roma in Betracht zieht, zeichnen sich somit für die Zukunft des Landes keine erfreuliche Perspektiven.

So kommen wir zu den schwierigsten Problemen der Transformation, die auch die Lage der Minderheiten beeinflussen. Sie sind vor allem in dem ständigen Pauperisieren der Gesellschaft zu suchen. Die soziale Differenzierung ist unter allen ethnischen Gruppen zu beobachten und die Kluft zwischen der verarmten Mehrheit und der kleinen Schicht von Wohlhabenden wird immer größer. Die sinkende Lebensqualität der breiten Teile der Nation wird am schmerzhaftesten aber bei den Minderheiten zu spüren. Hier hilft kaum das bloße Kopieren von woanders erprobten Modellen und ihre formelle Einführung, ohne jedoch die Lage konkreter Bevölkerungsgruppen tatsächlich aufzubessern. Die Einführung eines Muttersprachenunterrichts für Roma-Kinder z. B. ist bestimmt als einen guten Schritt für die Bewahrung und Entwicklung der ethnischen Identität zu bewerten. Doch wo werden sie später von den erworbenen Sprachkenntnissen Gebrauch machen? Offensichtlich nur im Rahmen der eigenen Gruppe, wo sie das Romani sowieso sprechen. Ohne dauerhafte gut finanzierte Anstrengungen zur Erhöhung der allgemeinen Qualifikation und des kulturellen Niveaus dieser Menschen, was zu verbesserten Arbeitschancen und Abnahme der Kriminalität führen könnte, sind die Probleme unter (und mit) den Roma kaum zu beseitigen. Solche Anstrengungen könnte sich aber nur eine wohlhabende Gesellschaft mit einer gezielten Sozialpolitik, funktionierenden Staatsinstitutionen und mit einem entwickelten Bewußtsein für die Prioritäten der Moral erlauben. Und das heutige Bulgarien ist leider weit davon entfernt.

Zwei Dekaden gezielte Liberalisierung im Bereich der Minderheitenpolitik sind schon eine lange Strecke. Bulgarien der Minderheiten sieht heute anders aus, als Bulgarien in den letzten Jahren des kommunistischen Regimes. Ich möchte hier nur zwei Punkte erwähnen, die auf eine Mentalitätsänderung hinweisen. Zum ersten ist der Begriff „Minderheit“ selbst, der früher im politischen Lexikon fast fehlte, wenn es sich um Teilgruppen handelte, die ein anderes Identitätsgefühl hatten als die dominierende Staatsnation. Heute spricht man weit und breit von Minderheiten, wobei das Word allein mit einem definitiven Artikel (als „die Minderheit“) auch als eine sinnverwandte Bezeichnung für die Roma benutzt wird. Man kann darin gewisse Nuancen der Nachsicht oder der Herabsetzung erkennen. Doch dieser Ausdruck ist weit milder, verglichen etwa mit Benennung wie „die Gebräunte (мургавите)“, geschweige denn von dem verächtlichen Spottname Mangal (auch Mango, Mangasar). Diese Formen sind in informalen Gesprächen unter „dem Volk“ im Gebrauch, während auf ein höheres Niveau und in der Presse die politisch korrektere Bezeichnung der Zigeuner als „Roma“ verwendet wird. Das ist eine qualitative Änderung und sie folgte nach vielen mühsamen Diskussionen über die Art und Weise, wie in den Nachrichten und im öffentlichen Diskurs die Zigeuner zu bezeichnen sind. Wurde es früher bei jedem berichteten Delikt, in dem ein Roma verwickelt surde, diese Tatsache von den Massenmedien kaum verschwiegen, wird heute die ethnische Zugehörigkeit der Täter überhaupt nicht erwähnt. Und das ist der zweite Punkt, worauf ich aufmerksam machen möchte. Natürlich sinkt damit die Kriminalität nicht, doch wird die Dämonisierung einer Gesellschaftsgruppe vermieden, die wegen eines niedrigen Bildungs- und Sozialstandes (auch wegen gewöhnlicher Elemente der traditionellen Kultur) viel leichter geneigt ist, Normen und Gesetze zu brechen.

Es bleibt noch einiges über die gegenwärtige Lage zu sagen. Die Tendenz der Verminderung bulgarischer Bürger hält weiter an – sei es wegen der höheren Sterblichkeit oder wegen der Emigration von Leuten in einem arbeitsfähigen fertilen Alter. Nach Angaben des Nationalen Statistischen Institutes sank die Anzahl der ständigen Bevölkerung Ende 2008 auf 7 606 551 Menschen, also mit 322 350 Menschen nach dem letzten Zensus, oder mit 33 700 Menschen (0,4%) im Vergleich zum vorherigen Jahr 2007. Die Fachleute wagen die Prognose zu machen, daß bei den ungünstigen sozial-ökonomischen Prozessen in Bulgarien seine Bevölkerung im Jahr 2060 etwa die Zahl von 5 166 000 Menschen erreicht (weniger, als die 1926 registrierte Größe von 5 478 741 Menschen!). Und das Problem liegt nicht in der Verminderung der totalen Zahl bulgarischer Bürger, sondern in der Senkung des Bildungs- und Kulturniveaus derjenigen davon, die das Bruttosozialprodukt produzieren werden. Noch heute erreicht über 30% aller Kinder (ausschließlich Romakinder) die Schwelle der Grundschulbildung (die 6. Klasse) nicht. Damit müssen sie sich künftig mit nicht qualifizierten Berufe begnügen, oder werden sie vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Dazu kommt die allgemeine Alterung der Bevölkerung (von etwa 63% im Jahr 2010 bleiben 2060 die arbeitsfähigen Bürger nur 50% und die im Seniorenalter werden in derselben Zeit von 23% auf 37% anwachsen). Gewiss ist das kein bulgarisches Phänomen, sondern eine allgemeine europäische Tendenz, die man teilweise mit Aufnahme von Immigranten (auch aus der muslimischen Welt) zu modellieren pflegt. Doch in unserem Falle, wenn es sich nichts ändert, wäre im Jahr 2060 das größte Teil der arbeitsfähigen Bulgaren unterqualifiziert, was sich auf das Lebensqualität derjenigen auswirkt, die das Rentenalter erreicht hätten. Und Muslime haben wir nach wie vor genug, um noch weitere anzusiedeln, ohne das Risiko von einer Gefährdung der kulturellen Balance.

Damit komme ich zum Schluß. Wenn ich die heutige Lage der Minderheiten in großen Zügen beschreibe, sind die folgenden „Snapshots“ zu merken: Einen Teil wie Russen, Armenier, Griechen, Ukrainer, Rumänen u. a. integrierten sich gut in der bulgarischen Gesellschaft, stehen kulturhistorisch und konfessionell der ostorthodoxen Mehrheit sehr nah und bieten ihr keine Probleme an. Die Juden besaßen auch vor der Wende gute Positionen. Die Mehrheit davon gehörten zur Kategorie der sogenannten „Aktiven Kämpfer gegen dem Kapitalismus und dem Faschismus“ – eine privilegierte Schicht, die sich auf viele Erleichterungen und Vorteile erfreute, so beim Einschreiben zum Studium, bei Ernennung auf einem Posten, beim Erhalten einer Wohnung usw. Die überwiegende Mehrheit davon waren Mitglieder der KP, manche – auf sehr hohe Positionen im Parteiapparat. Viel größer war auch die Anzahl der mit Juden verschwägerten Bulgarinnen und Bulgaren – sie profitierten von der Verwandtschaft. Nach der Wende eröffneten sich nun weitere Möglichkeiten. Manche Juden nutzten die Gelegenheit, sich als israelische Staatsbürger zu registrieren. Andere schlossen sich Stiftungen und NGO an, fanden gute Stellen in Wirtschafts- und Finanzinstitutionen und trugen zum Aufbauen der bürgerlichen Gesellschaft bei.

5071 bulgarische Bürger definierten sich beim Zensus 2001 als Makedonier. Die Mehrheit davon stammten aus dem Gebiet vom Blagoevgrad. Politisch werden sie von der 1999 registrierten, doch bereits 2000 als Verfassungswidrig erklärten Vereinigte Makedonische Organisation: Ilinden-Pirin (OMO-Ilinden) vertreten. Die Situation mit der Minderheit schreibt sich in der bulgarisch-jugoslavischen Kontroverse um Makedonien ein. Und obwohl in der letzten Zeit einiges für die Verbesserung der Beziehungen beider benachbarten Staaten und Nationen getan wurde, sind noch viele Hindernisse in der mentalen Sphäre zu überwinden.

Weit entspannter entwickelte sich die Situation mit den bulgarischen Türken. In diesen langen Jahren lernte das Staatsvolk ihre türkische Minderheit besser kennen. Der Hauptvertreter der Türken und Muslime im Lande – die Bewegung für Rechte und Freiheiten nahm auch christliche Bulgarinnen und Bulgaren in ihren Reihen auf, um sich als eine nicht-ethnische nationale Partei zu behaupten. Ein kluger Schritt seitens der Parteiführung, die auf diese Weise mit genügend Fachkräfte für die Repräsentation der BRF auf alle Verwaltungsebenen rechnen könnte. Bereits seit den 90er Jahren spielte die „türkische Partei“ eine wichtige Rolle im politischen Leben Bulgariens. Und in unserem Jahrzehnt war sie schon zweimal eine mitregierende Partei. Bis vor einigen Monate hatte die Bewegung in jedem Ministerium falls nicht einen Minister dann einen stellvertretender Minister, sowie Leute auf zahlreiche niedrigere Positionen. Es kann sein, daß einige davon ihr Kompetenzniveau schon längst überschritten hatten. Daher die Beispiele der Nichtbewältigung der Arbeit, aber auch die Fälle einer Korruption, die doch gleich auch unter den Bulgaren in solchen Positionen verbreitet sind.

Über die Roma habe ich bereits einiges gesagt. Sie besitzen auch ihre eigenen Vereine, die besonders bei Wahlen aktiv sind und um die größeren politischen Subjekte gravitieren. Und was die Pomaken angeht, bleiben sie weiterhin unter gemischten Einflüssen. Daher die Bestrebung nach einer ethnisch neudefinierten Identität. Der für den Islam gewonnene Raum wird durch Moscheen markiert, sehr oft mit großzügigen Spenden aus der Türkei und aus der islamischen Welt neugebaut – auch in Ortschaften, wo es früher traditionell keine Moscheen gab. Und die muslimische Zugehörigkeit dieser Bevölkerung wird äußerlich in der Bekleidung demonstriert, wobei nun auch – gewiss noch als eine Rarität – arabische Elemente zu erkennen sind. Dies ist im Einklang mit der Wohltätigkeit mancher Organisationen, sowie mit den gezielt verbreiteten Vorstellungen (so in Saudi Arabien) von einer islamischen oder gar arabischen Herkunft der „echten“ Bulgaren, wobei als solche auf dem Balkan nur die Pomaken in Frage kämen.