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				1.
				Am Ausgang des 
				20. Jahrhunderts lebten am Balkan (ohne die Bevölkerung im 
				europäischen Teil der Türkei in Betracht zu ziehen) etwa 7 bis 8 
				Millionen Muslime. Im Unterschied zur etwa denselben Anzahl der 
				als Gastarbeiter, Kriegsvertriebene oder aus anderen 
				Beweggründen nach Europa übersiedelten Moslems (die meisten 
				davon in der BRD, in Frankreich und in Großbritannien) stellen 
				die Anhänger dieser Weltreligion in Südosteuropa eine alte
				
				autochthone Gruppe dar. Die 
				muslimischen Gemeinschaften sind dort als ein Erbe der 
				Jahrhunderte langen osmanischen Herrschaft zu betrachten, da der 
				Islam erst mit der Expansion der osmanischen Türken seinen 
				festen Fuß in der Region faßte. Gewiß gibt es Anzeichen von 
				eventuellen islamischen Einflüssen in der vorosmanischen Zeit 
				oder sogar bereits vor der Christianisierung der Bulgaren im 
				Jahr 864. Doch alle Versuche, die Existenz muslimischer Gruppen 
				auf dem Balkan schon vor der Türkenzeit nachzuweisen, sind nicht 
				genug überzeugend und eher als moderne Mythen der sich 
				emanzipierenden neuen „muslimischen Geschichtsschreibung“ zu 
				beurteilen. Dazu gehört auch die von dem schon verstorbenen 
				bekannten österreichischen Bosnien und Islamexperte Smail Balić 
				vertretene These, daß es muslimische Bevölkerungsinsel in diesem 
				Teil Europas schon seit dem 9. Jahrhundert gegeben hatte und die 
				sogenannten 
				Saqaliba 
				als „Prätorianer 
				der maurischen Kalifen von Cordoma“ in Zusammenhang mit den 
				Balkanslawen gebracht werden müßten.[1]
				
				Der Islam drang 
				also im Züge der osmanischen Eroberungen ein. Seine orthodoxe 
				Version - der 
				Sunnismus
				- lies 
				sich auf dem Balkan mittels der osmanischen Administration und 
				der Diener des religiösen Kultes,[2]
				aber auch 
				dank der ökonomischen Migration von TurkmenerBevölkerung aus 
				Kleinasien, und zwar sowohl von Nomaden (die sogenannten 
				Yürüken), 
				als auch von schon eingesessenen Agrar- und handwerklichen 
				Stadtbevölkerung,[3]
				
				nieder. Eine große 
				Rolle bei der Verbreitung des neuen Glaubens unter den 
				Einheimischen spielten auch die heterogenen muslimischen Sekten 
				und Brüderschaften, dessen Ritus- und Glaubenssystem, das in 
				sich die Verehrung von Heiligen einschloß, Christen und Moslems 
				annäherte[4]
				
				und denjenigen 
				Modul des Zusammenlebens und gegenseitiger Hilfe schuf, der in 
				der Balkanethnologie als „Komschuluk“ (aus türk. 
				komşu 
				‘Nachbar’) bezeichnet wird. Besonders die 
				Bektaschîs
				müssen 
				hier erwähnt werden, die mit ihrem religiösen Synkretismus, der 
				auch des Volkschristentums nah stehende Elemente beinhaltete, 
				den Konvertiten seinen Weg im neuen Glauben erleichterten. Nicht 
				zufällig findet man ihre Spuren fast überall dort, wo es sich um 
				eine breitere Islamisierung der einheimischen Bevölkerung 
				handelte (so in Bosnien, in Albanien), wobei im Falle der 
				Albaner die „Bektašiyya“ 
				fast zu einen „nationalen Glaube“ wurde. In diesem Sinne ist der 
				Islam in Südosteuropa traditionellerweise ganz mäßig, er 
				charakterisiert sich mit einer toleranten Einstellung gegenüber 
				der Fremdartigkeit der „Anderen“ und deren Kultur, und die 
				Vertreter dieser Konfession - nicht nur in Bosnien - betrachten 
				sich eher als „europäische Moslems“, die fremd jedes religiösen 
				Fanatismus sind.[5]
				
				Als einen Teil der 
				osmanischen Hinterlassenschaft findet man fast überall auf dem 
				Balkan muslimische Gemeinden. Sogar im entferntesten 
				nordwestlichen Teil der Region (von der Türkei her betrachtet) 
				wurden 1991 in Slowenien 26 726 Muslime (1,4 % der 
				Bevölkerung) registriert, die sich zur „jugoslawischer Zeit“ in 
				der katholisch geprägten Teilrepublik niederließen. Viel größer 
				ist die muslimische Bevölkerungsanteil in den westlichen, 
				südlichen und südöstlichen Gebieten des Balkans. 1981 rechnete 
				man z. B. mit 1 999 890 „Muslime im 
				nationalen Sinne“ in der Bundesrepublik Jugoslawien (8,9 % der 
				Bevölkerung). Davon wurden 1 629 924 
				Muslime in Bosnien und Herzegowina (39,5 %), 2374 in Kroatien 
				(0,5 %), 13 425 in Slowenien (0,7 %), 78 
				080 in Montenegro (13,4 %), 39 555 in Mazedonien (2,1 
				%) und 215 166 in Serbien (2,3 %) [also 151
				674 Muslime in engeren Serbien (2,7 %), 58 562 
				in Kosovo (3,7 %) und 4930 in Wojwodina (0,2 %)] registriert. 
				Zehn Jahre später waren sie 1991 bundesweit auf 2 353
				002 Menschen angestiegen (10,0 % der Gesamtbevölkerung), 
				wovon der größte Teil - 1 905 829 (43,7 %) 
				- Bosnien und Herzegowina bewohnte. Aber auch in Bulgarien wurde 
				13,1 % der Gesamtbevölkerung 1992 als muslimisch registriert 
				(davon 800 032 Türken und 4515 Tataren, die zusammen 
				9,5 % der Bevölkerung ausmachten, ferner vielleicht etwa 200
				000 Pomaken und 113 000 muslimische Roma). In 
				Rumänien gab es in demselben Jahr 24 649 Tataren und 
				23 369 Türken (insgesamt 0,2 % der Bevölkerung). In 
				dem neuen unabhängigen makedonischen Staat zählte man 1994 
				offiziell 16 100 Muslime (0,8 %), 81 600 
				Türken (3,9 %) und 479 000 vorwiegend muslimische 
				Albaner (23,1 %), die nach ihrer Selbsteinschätzung weit mehr 
				etwa um 30-40 % der Gesamtbevölkerung ausmachen sollten. Albaner 
				(meisten Muslime) waren 1991 auch in Montenegro mit 40
				880 (6,6 %) Menschen und in Serbien mit 1 686
				700 (17,2 %) Menschen, darunter nur in Kosovo mit 1
				226 736 (77,4 %) Menschen sehr stark vertreten. 
				Und unter den 1989 gezählten 3 117 600 
				Einwohner Albaniens selbst bekennen sich etwa 70 % (d. h. 2
				182 320 Menschen) zum Islam. Kleinere 
				muslimische Gruppen von Türken, Pomaken und Roma gibt es auch in 
				Griechenland sowie nördlich der Linie Donau und Save, die den 
				eigentlichen Balkanraum von dem Rest Südosteuropas trennt.
				
				2.
				
				Somit kann man - mit gewissen Einschränkungen - von dem 
				Vorhandensein einer 
				überregionalen muslimischen Minderheit 
				sprechen, ähnlich wie die 
				der Juden, der Roma, aber auch der Deutschen, Armenier usw. 
				Diese Vorstellung scheint vielleicht in der 
				Südosteuropa-Forschung schon verankert zu sein und so befassen 
				sich die Verfasser des nützlichen „Studienhandbuches 
				Östliches Europa“ 
				(Bd. 1. „Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas“, Böhlau 
				Verlag, 1999) im Abschnitt „Länderübergreifende ethnische und 
				religiöse Gruppen“ mit den Muslimen neben den Armeniern, 
				Aromunen, Deutschen, Griechen, Juden und Zigeunern (Roma). Aber 
				auch in einem interessanten Projekt der Uni Bonn, an der während 
				des Wintersemesters 2003/2004 über die „Minorities 
				on the Balkans - Historical Background“ 
				diskutiert wurde, wurden als „supraregionale 
				Minderheiten“ neben 
				Deutschen, Juden, Sinti und Roma sowie Vlachen auch die „Muslime 
				(einschl. Muslimische Minderheiten)“ behandelt.
				
				Formell angesehen 
				kann eine solche Einordnung, also die Systematisierung der 
				Minderheiten in drei überschaubaren Gruppen (supraregional, 
				regional und subregional), aus ganz pragmatischen Gründen 
				berechtigt sein. Doch bei den Muslimen stoßen wir auf einen 
				„Sonderfall“. Alle der übrigen „supraregional Minorities“ bzw. „länderübergreifenden 
				Gruppen“ sind ethnische oder nationale Minderheiten (nur bei 
				Juden fällt die ethno-nationale und die religiöse Identität fast 
				völlig zusammen), zu denen Muslime nun als eine konfessionelle 
				Einheit zugefügt werden. Vielleicht funktionierte das Schema 
				ohne weiteres nur im Rahmen des ehemaligen Jugoslawiens, worin 
				seit 1971 einen Teil der Muslime (vor allem die heutigen 
				Bosniaken) auch zur „Muslime im nationalen Sinne“ erklärt 
				wurden. Außerhalb dieser Zeit- und Raumspanne sollte den Begriff 
				von „supraregional“ in bezug auf die Muslime nur mit Vorbehalt 
				verwendet werden.
				
				Die Muslime sind 
				gewiß zu einer überregionalen Minderheit geworden, weil sie - 
				ähnlich wie die Juden, die Roma u. v. a. - fast überall am 
				Balkan beheimatet sind, doch sie stellen keine einheitliche 
				Gruppe dar. Schon im religiösen (also im subkonfessionellen) 
				Bereich nicht, geschweige denn von ihrer ethnischen Struktur.
				
				3.
				Zu 
				Beginn des 21. Jahrhunderts sind die Muslime Südosteuropas 
				schwerlich als ein einheitliches Ganzes zu betrachten. Der 
				überwiegende Teil davon sind orthodoxe 
				Sunniten 
				aus der hanefitischen Richtung. Sie sind Träger des 
				traditionellen türkischen Islams, der im Osmanischen Reich 
				gepflegt und weiterentwickelt wurde. In Bulgarien bildeten z. B. 
				1992 die Sunniten 12,05 % der Gesamtbevölkerung oder 92,56 % 
				aller Moslems (1 026 756 Menschen). Und in 
				post-osmanischen Albanien machten die Sunniten 55 % der 
				Bevölkerung aus, zu denen sich die 15 % Bektaschi-Anhänger (also 
				insgesamt 70 % Muslime), 20 % Ost-Orthodoxe und 10 % 
				römisch-katholische Albaner anschlossen (eine Proportion, die 
				sich bis in die jüngste Zeit beibehalten haben sollte). 
				
				
				Eine viel kleinere 
				Anzahl von Gläubigen sind 
				Schiiten. 
				Etwa 7,44 % aller Moslems in Bulgarien gehörten 1992 zu dieser 
				Glaubensrichtung des Islams (83 537 Menschen, 0,98 % der ganzen 
				Bevölkerung). Das sind die sogenannten 
				Kizilbaschi
				oder 
				Aliani, 
				Aleviten 
				- Anhänger Ali’s, 
				der Schwager Mohammeds, der von seinen Verehrern für Nachfolger 
				des Propheten gehalten wird. Die Schiiten am Balkan könnte man 
				als ein Produkt der Tätigkeit nicht orthodoxer islamischen 
				Sekten und Brüderschaften oder aber auch als ein Ergebnis von 
				Umsiedlungen der Bevölkerungsgruppen aus kurdischen Anatolien 
				und anderen Gebieten des Reiches, besonders im Zusammenhang mit 
				den osmanisch-iranischen Kriegen, betrachtet werden. Im 
				sunnitischen Milieu führen sie ein relativ geschlossenes 
				Religionsleben und grenzen sich durch Einzelheiten in der 
				rituellen Praxis und Traditionen von der übrigen muslimischen 
				Bevölkerung ab. Neben den Aleviten in Bulgarien und Mazedonien 
				(z. T. auch in Griechenland) sowie unter manchen pomakischen 
				Kleingruppen, sollte man vielleicht ferner die 
				Bektaschî-Gemeinde 
				besonders unter den Albanern erwähnen, die mit den Aleviten 
				viele gemeinsame Glaubenselemente und Praktiken teilt. Seit 
				ihrem VI. Weltkongreß in Tirana (1993) betrachten sich die 
				Bektaschîs eher als eine von den Sunniten unabhängige 
				Glaubensgemeinschaft und nicht mehr als eine Sekte oder einen 
				Derwisch-Orden im Rahmen des orthodoxen Islams. 
				
				Auf dem Balkan gab 
				es bislang keine Anhänger der 
				Haridschiten, 
				derjenigen Puritaner und Fundamentalisten, die für die arabische 
				Welt charakteristisch sind und zur Einhaltung der strengen 
				sittlichen Normen sowie zur Rückkehr zu den Wurzeln des „reinen“ 
				Islams auffordern. Auch die 
				wahabitische 
				Interpretation des Islams, so wie sie in Saudi Arabien 
				beheimatet worden ist, fand am Balkan keine Verbreitung. Doch 
				nachdem der Islam während des Bosnien-Krieges für die Bosniaken 
				zum wichtigsten identitätsstiftenden Merkmal wurde, nachdem die 
				muslimischen Staaten (vor allem Saudi Arabien) als Gegenleistung 
				für ihren Beistand eine stärkere Beachtung der islamischen 
				Vorschriften fordern konnten und nachdem sich mit dem Kriegsende 
				manche arabische 
				Mudschahiddins
				im Lande 
				niederließen, wo sie ungestört ihre eigenen Vorstellungen von 
				dem Islam praktizieren und weiterverbreiten dürfen, konnten mit 
				der Zeit auf dem Balkan auch Zentren eines islamistischen oder 
				gar islamisch-fundamentalistischen Gedankengut entstehen. Ende 
				der 90er Jahre sicherte man Missionare aus der 
				arabischen Welt und aus dem Pakistan, die den herkömmlichen 
				Glauben der Pomaken in Bulgarien „verbessern“ wollten. Auch 
				Anhänger des sogenannten Kalifen von Köln fand man neulich unter 
				der muslimischen Romabevölkerung. Und Fälle der Aktivierung 
				islamistischer Propaganda gab es ferner in Mazedonien, Albanien, 
				Bosnien und in anderen Staaten Südosteuropas.
				
				4.
				
				Nicht nur im konfessionellen Bereich sondern auch nach ihrer 
				Muttersprache und daher nach der vermutlichen ethnischen 
				Zugehörigkeit unterscheiden sich die Balkanmuslime stark 
				voneinander. Dabei differieren sie auch nach ihrer regionalen 
				und staatlichen Verteilung. Wenn in Bulgarien z. B. die 
				zahlreichste Minderheitengruppe die der türkischen Bevölkerung 
				war und ist (1992 etwa 9,42 bis 9,58 % der Gesamtbevölkerung), 
				sind die Türken
				in anderen Ländern 
				Südosteuropas nicht so stark als eine Minderheit vertreten. 1991 
				machten sie nur 1621 Menschen im engeren Serbien und 12
				513 Menschen (0,8 %) in Kosovo, sowie vielleicht 97 416 
				Menschen (4,79 %) in Mazedonien und nur 67 Menschen in 
				Montenegro (während es für die anderen Teilrepubliken der BR 
				Jugoslawien keine Angaben bezüglich der Türken gab). In Rumänien 
				wurden 1992 weniger Türken als Tataren gemeldet (23 
				369 Menschen, 0,1 %) und 1994 rechnete man in Mazedonien mit 81
				600 Angehörige dieser ethnischen Gruppe (3,9 %).
				
				Sehr nah an 
				die Türken stehen in ethnolinguistischer Hinsicht die 
				Tataren, 
				die im Unterschied zu den vom Süden her auf dem Balkan 
				gekommenen Osmanen einen Teil der nördlichen Migration der 
				Kiptschaken darstellten. Noch im 13. Jh. ließen sich tatarische 
				Gruppen im Donau Tiefebene, einschließlich in der Walachei 
				nieder. Während der osmanischen Zeit wurden günstige Bedingungen 
				für die Ansiedlung von Tataren in der Dobrudscha geschaffen, die 
				daher die Bezeichnung „Klein Tatarien“ in Analogie zur 
				byzantinischen „Klein Skythien“ (Σκυθια 
				μινορις) 
				erhielt. Große Einwanderungen gab es nach der Eroberung des 
				Krim-Chanates durch Rußland (1783) und um den Krimkrieg 
				(1853-56), als etwa 60 000 
				Krimtataren 
				in der Dobrudscha, im Donauflachland und im Gebiet von Vidin 
				ansiedelten. Ihre Nachkommen, die eigene Identität aufbewahrten, 
				bilden die Gruppe der Tataren in Bulgarien[6]
				und Rumänien 
				(1992 wurden dort offiziell 4515 bzw. 24 649 Tataren 
				registriert), obwohl es auch kleinere Gemeinden von 
				Nogaier,
				Tats,
				Kirisch,
				Schora,
				
				Karatschaier 
				usw. gibt, deren 
				Mundarten sich mit der Zeit vereinheitlichten,[7]
				
				sowie eine Gruppe 
				der sog. „Tatar 
				Schengene“ 
				(tatarische Zigeuner), die z. T. Türkisch und Tatarisch 
				sprechen. Die politische Turzisierung der Tataren fing Ende der 
				20-er Jahre an,[8]
				so daß man 
				mit der Zeit die Tataren als einen Teil der türkischen 
				Minderheit zu betrachten begann.[9]
				Auch bei den 
				„türkischen 
				Zigeunern“ (horohane
				Roma) 
				ist der Assimilationsprozeß so vorangetrieben, daß sich mehr als 
				die Hälfte (etwa 61 %) untereinander nur auf Türkisch 
				verständigen. Eine andere Volksgruppe, die 
				Tscherkesen, 
				wurde von den Türken schon fast vollständig assimiliert, so daß 
				1992 in Bulgarien lediglich 573 ihrer Vertreter gezählt werden 
				konnten. In den anderen Staaten Südosteuropas einschließlich im 
				östlichen Bosnien, wo die Pforte im 19. Jh. viele Tscherkesen 
				als Bollwerk gegen die Serben ansiedelte, sind die Tscherkesen 
				heute so gut wie unbekannt.
				
				Außerhalb der 
				turkophonen bzw. sprachlich turzisierten Muslime sind auf dem 
				Balkan zahlreiche Nachkommen der zum Islam konvertierten 
				einheimischen Bevölkerung zu vermerken, die ihre eigenen 
				Mundarten beibehielten. Darunter stellen die muslimischen 
				Albaner
				z. B., die 
				weiterhin etwa 70 % der albanischen Bürger ausmachen, die 
				Mehrheit in ihrem eigenen Staat dar. Aber auch in den von 
				Albanern bewohnten benachbarten Gebieten (in Montenegro, 
				Mazedonien, Serbien und vor allem in Kosovo), ist die albanische 
				Bevölkerung mehrheitlich muslimisch. Als eine relative Mehrheit 
				im eigenen Staate darf man ferner die 
				Bosniaken 
				betrachten, 
				die man früher unter „Muslime im nationalen Sinne“ 
				zusammenfaßte. Der mit dem Kriege verstärkte Prozeß des 
				Identitätswandels führte bei ihnen zu allerlei Abgrenzungen von 
				den Serben und den Kroaten, einschließlich durch die künstliche 
				„Orientalisierung“ und Absonderung des Bosnischen als einen 
				neuen Zweig der gemeinsamen serbokroatischen Sprache. In wie 
				fern die serbisch sprechenden Muslime von Sandschak, die mit 2
				291 160 Menschen 1991 etwa 52 % der dortigen 
				Bevölkerung ausmachten, sich künftig als Bosniaken fühlen und ob 
				sie zu einer „bosniakischen nationalen Minderheit“ entwickeln 
				würden, bleibt es abzuwarten. Doch sie scheinen nicht diejenigen 
				Probleme der Identifizierung zu haben, die das Leben der 
				muslimischen Roma begleiten und auch für die Bulgarisch oder 
				Makedonisch sprechenden 
				Pomaken 
				(Achrjane,
				Torbeschi,
				Goranci) 
				eigen sind. Somit kommen wir schließlich zu einer der am 
				stärksten umstrittenen muslimische Gruppe am Balkan. 
				
				
				
				5.
				
				Die unter verschiedenen Namen bekannten 
				BulgarenMoslems 
				(Pomaken) 
				sind eine 
				Gebirgsbevölkerung, die in fünf Staaten beheimatet ist und früh 
				im Blickfeld der sich konkurrierenden Nationalismen geriet. Man 
				setzt ihre Anzahl auf fast 500 000 Menschen, wovon 
				zwischen 80-120 000 in Albanien, fast 40 
				Tausend in Griechenland und Mazedonien und etwa 150-200
				000 in Bulgarien leben.[10]
				In der 
				Türkei selbst wurden 1965 ungefähr 20 000 Menschen 
				mit einer pomakischen Muttersprache (‘Pomakça’) 
				registriert, die meistens Auswanderer aus Bulgarien waren, wovon 
				die Hälfte das Gebiet von Edirne bewohnten.[11]
				Die 
				Verteilung der Pomaken in angrenzenden Staaten rief kontroverse 
				Erklärungen über ihre vermutliche ethnische Herkunft hervor, die 
				wiederum auf die eigenen Identitätsvorstellungen reflektierten. 
				In Bulgarien werden die Pomaken z. B. als ethnische Bulgaren (Bulgarmohammedaner) 
				betrachtet, die den Islam während der osmanischen Periode 
				übernahmen, was die Gemeinschaft der Sprache und traditioneller 
				Volkskultur, sowie die aus den osmanischen Quellen gewonnene 
				Information, bezeugt. In der türkischen Literatur werden sie als 
				autochthone 
				Rhodopen- 
				oder 
				Gebirgstürken
				
				qualifiziert, die Nachfolger der Kumanen aus dem 12. Jh. oder 
				Nachfahren anderer Turkstämme sein sollten, welche noch vor dem 
				Erscheinen der Osmanen die Rhodopen besiedelten, wo sie 
				bulgarisiert wurden und ihre Muttersprache vergaßen. 
				Nationalistische Propagandaschriften setzten ihre Anzahl auf 
				fast „6 Millionen Rhodopentürken“,[12]
				
				was den höchsten 
				Vermutungen von der zahlenmäßigen Stärke der türkischen 
				Bevölkerung in diesem Lande widerspricht. In Griechenland 
				dagegen sind die Pomaken als „slawophone 
				islamisierte Hellenen“ 
				oder als Nachfahren der alten Thraken und damit als griechische 
				„Verwandten“ gehalten worden, welche die bulgarische Invasion im 
				7.-12. Jh. nach den Rhodopen verdrängte, wo sie slawisiert und 
				mit dem Eintreten der Osmanen islamisiert wurden. Bluttesten 
				sollten außerdem „beweisen“, daß die Pomaken eine besondere 
				Rasse von 
				Thraken Achrianen 
				sind, also uralte Bewohnern des breiten hellenistischen Raums, 
				die mit den übrigen Völkern des Balkans, außerhalb natürlich mit 
				den Griechen, gar nichts gemeinsames haben. Und wenn früher die 
				Pomaken im Griechenland als einen untrennbaren Teil der 
				muslimischen Bevölkerung zusammen mit den Türken in Ost-Thrakien 
				behandelt wurden, versuchte man sie in den 90er 
				Jahren des 20. Jahrhunderts als ein separates Volk abzusondern, 
				um sie von den Einflüssen sowohl der Türkei als auch Bulgariens 
				fernzuhalten. In Albanien zählt man die Pomaken zur 
				makedonischen Minderheit; in Mazedonien selbst werden 
				sie als einen Teil der sprachlichen Mehrheit akzeptiert, obwohl 
				sie sich eher den von Albanern dominierten muslimischen 
				Minderheit anschließen und nicht selten darin auch assimilieren 
				lassen.[13]
				Es gibt 
				keine Indizien für besondere Theorien über die Herkunft der 
				sogenannten 
				Torbeschi
				(die „makedonischen 
				Muslime“) außerhalb der allgemeinen Vorstellungen von der 
				Genesis des mazedonischen Volkes. Auf diese Weise versucht jede 
				Nation die Pomaken an sich zu ziehen, woraus sich ein 
				Streitproblem herausbildet. Deswegen fühlen sich die Pomaken 
				selbst unsicher und sind beim Aufbau ihres Identitätsbildes 
				fremden Einflüssen leicht zugänglich. Unter arabischer 
				Suggestion entstand am Ausgang des 20. Jahrhunderts eine These, 
				die alle bisherige Herkunftsinterpretationen in den Schatten 
				stellte. Danach stammen die Pomaken von Gesandten (Peygambere) 
				des Propheten selbst, die nach seinem Befehle noch vor der 
				Niederlassung der Slawen und Türken auf dem Balkan kamen, um die 
				Worte Allahs zu verbreiten. Somit mischte sich im Streit ein 
				neuer „Spieler“ ein, der die Pomaken aus Arabern oder gar 
				Pakistanis herleiten will. Diese Mythologeme hält keine 
				ernsthafte Kritik stand. Sie verdient aber trotzdem eine 
				ernsthafte Aufmerksamkeit, weil sie „die Grenzen des Islams in 
				Europa so ‘zeichnet’, wie sie angeblich vom Propheten selbst 
				vorausbestimmt wurden“[14].
				Und im 
				Kontext der Erwägungen S. Huntingtons von den Frontlinien des 
				„kulturellen Zusammenpralls“ darf sie nicht unberücksichtigt 
				bleiben.
				
				Somit komme ich zum 
				Schliß. Die hier angesprochenen Identitätsprobleme sind 
				vorwiegend im ethnischen Bereich zu spüren, weil die 
				Volkszugehörigkeit und die Sprache weiterhin eine bestimmende 
				Rolle bei der Identitätsbildung haben und daher oft unter einem 
				Manipulationszwang stehen. Dies erklärt den Wunsch mancher 
				Pomaken, das Türkische als ihre Muttersprache anzugeben, ohne 
				sie überhaupt zu beherrschen, das Streben muslimischer Roma, 
				sich in die türkische Minderheit einzuschließen, das 
				Assimilieren makedonischer Muslime in der größeren albanischen 
				Volksgruppe usw., aber auch die Abgrenzungstendenzen unter den 
				Bosniaken, die im Rahmen des laufenden Nationsbildungsprozesses 
				ihre Sprache und Herkunft neu zu definieren haben.
					 
 
						
						
						
						
						[1]
						 
						Vgl.  S. 
						Balić.  
						Bosniens 
						verkannte Identität im Spiegel des eigenen nationalen 
						Schicksals. - In: Ethnos-Nation, 1 (1993), H. 2, 
						S. 7-13 (s. auf S. 7) sowie andere seiner Arbeiten. 
						
						
						
						
						[2]
						 
						Siehe:  
						A.
						Željazkova. 
						Razprostranenie na isljama v Zapadnobalkanskite zemi pod 
						osmanska vlast, XV-XVIII v.  
						[Die Verbreitung des Islams in den 
						westlichen Balkanländern unter osmanischer Herrschaft, 
						15-18. Jh.]. 
						Sofia, 1990;
						A. Željazkova. 
						Turci  
						[Türken]. 
						- In:  Obštnosti i 
						identičnosti v Bălgarija
						
						[Gemeinschaften und 
						Identitäten in Bulgarien]. 
						Hrsg. A. Krăsteva. 
						Sofia, 1998, S. 371-397 (siehe 
						auf die S. 375). 
						
						
						
						
						[3]
						 
						E. Radušev.
						
						Demografski i etnoreligiozni procesi v Zapadnite 
						Rodopi prez XV-XVIII v. (Opit za preoreosmisljane na 
						ustojčivi 
						istoriografski modeli)
						[Demographische und 
						ethnoreligiöse Prozesse in den westlichen Rhodopen 
						während des 15.-18. Jhs. (Ein Versuch eines Überdenken 
						standhafter historiographischen Modele)].
						-  
						Istoričesko 
						bădešte, 
						1998, N° 1, 46-89. 
						
						
						
						
						[4]
						 
						A.
						Željazkova.  
						Turci, 375-376.   
						
						
						
						
						[6] S. 
						Antonov, I. Miglev. Tatari 
						[Tataren]. 
						- In: 
						
						Obštnosti i identičnosti 
						v Bălgarija, S. 
						356-370. 
						
						
						
						
						[7] Vgl. E. 
						Boev. Nekotorye osobenosti tatarskogo govora v 
						gorode Varna [Einige 
						Besonderheiten der türkischen Mundart in der Stadt von 
						Varna]. - LB, 1964, 
						N° 8, 69-86; E. Boev. Izsledvanija i materiali po 
						tatarska dialektologija v Bălgarija
						
						[Untersuchungen und 
						Materialien über eine tatarische Dialektologie in 
						Bulgarien]. - GSU FZF, 
						Bd. 64-2, 1971, 77-186. 
						
						
						
						
						[8]
						
						S. 
						Antonov. Etničeski 
						vzaimootnošenija meždu 
						bălgarite i tatarite 
						v Dobrudža prez 
						30-te godini na XX v. 
						
						[Ethnische Wechselwirkungen zwischen den Bulgaren und 
						Tataren in Dobrudscha in den 30-er Jahre des 20. Jh.].
						- In: 
						 Bălgarite 
						v Severnoto Pričernomorie. 
						Izsledvanija i materiali.  
						T. 4  
						[Die Bulgaren im Nördlichen 
						Schwarzenmeergebiet. Untersuchungen und Materialien. Bd. 
						4]. Veliko Tărnovo, 
						1995, S. 303-308; S. Antonov, I. Miglev. Tatari, 
						358. 
						
						
						
						
						[9] Weitere 
						Einzelheiten bei: S. Antonov, I. Miglev. Tatari, 
						360-369, sowie in den von Stojan Antonov vorbereiteten 
						Dissertation „Die Tataren in Bulgarien (Eine 
						ethnologische Untersuchung)“. 
						
						
						
						
						[10]
						 
						In der 
						Türkei wird die Anzahl der bulgarischen Pomaken als viel 
						höher zwischen 250 bis 500 Tausend Menschen 
						eingeschätzt.  
						Vgl.  B. N.
						Şimşir.
						
						Migration from Bulgaria to 
						Turkey. 1950-1951 Exodus. - Foreign Policy 
						(Ankara), 12, 3-4, 1986, p. 93. 
						
						
						
						
						[11]
						Siehe bei: E. Franz. The 
						Exodus of Turks from Bulgaria, 1989. - Asian and 
						African Studies (Jerusalem), 25, 1, 1991, 81-97
						
						(s. auf S. 87). 
						
						
						
						
						[12]
						So in einer 
						alten Broschüre - „Die Stimme der Rhodopener“ (Istanbul, 
						1973), die nach einiger Presseberichte massenhaft von 
						Aktivisten der BRF in den Rhodopen verbreitet wurde. 
						Vgl. "Kserokopija četat 
						po novomu istorijata. Ahmed Dogan inspektira tajno 
						aktivistite si v Čeča"
						
						[Xerokopien lesen die 
						Geschichte auf eine neue Weise. Ahmed Dogan inspektiert 
						heimlich seine Aktivisten im Tschetcha]. 
						- Trud, N° 33 (14218) vom 09.02.1994, S. 3. 
						
						
						
						
						[13] 
						M. Apostolov. 
						Religious Minority in Balkans. - 
						Nationalities Papers (New York), V, 25, 1998, 
						727-742. 
						
						
						
						
						[14]
						
						C. 
						Georgieva. Săžitelstvoto 
						kato sistema văv 
						vsekidnevnija život 
						na hristijanite i mjusjulmanite v Bălgarija
						[Das Zusammenleben als ein 
						System im alltäglichen Leben von Christen und Moslems in 
						Bulgarien]. - In: 
						 Vrăzki 
						na săvmestimost i 
						nesăvmestimost meždu 
						hristijani i mjusjulmani v Bălgarija
						
						
						[Beziehungen von 
						Kompatibilität und Unkompatibilität zwischen Christen 
						und Moslems in Bulgarien]. 
						Sofia, 1994, S. 140-158 (s. auf S. 154).   |  |